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Tage­smütter dür­fen nicht im Alters­heim wohnen

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Seit Jah­ren be­treut Kä­thi Be­rog­gi zwei Kin­der. Nach ih­rem Um­zug ins Al­ters­heim will der Ge­mein­nüt­zi­ge Frau­en­ve­rein die Ta­ges­mut­ter nicht mehr TOP be­zah­len.

Kinder

Käthi Beroggi mit Isauri und Giovanna in der Altersheimküche.

Foto: Nicola Pitaro

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Von Denise Marquard

Zürich — Käthi Be­rog­gi lebt erst seit knapp einem Mo­nat im Al­ters­heim Bul­lin­ger Har­dau. Die 76-Jäh­ri­ge ist be­reits vier­mal am Rüc­ken ope­riert wor­den, wes­halb ihr das Trep­pen­stei­gen am al­ten Wohn­ort zu viel ge­wor­den ist. Es ge­fällt ihr im Al­ters­heim, hier wird sie von vie­lem ent­las­tet. Und wenn der Uhr­zei­ger ge­gen 17 Uhr wan­dert, strahlt sie rich­tig. Dann kommt ihr ehe­ma­li­ges Nach­bars­kind, die 10-jäh­ri­ge Gio­van­na. Zwei­mal pro Wo­che wird sie be­glei­tet von ih­rer 15-jäh­ri­gen Schwes­ter Isau­ri. Be­rog­gi schaut dar­auf, dass die Mäd­chen ih­re Auf­ga­ben ma­chen, dann es­sen sie zu­sam­men. Spä­tes­tens um 20 Uhr wer­den die Kin­der nach Hau­se ge­schickt. Für die bei­den ist das selbst­ver­ständ­lich. Frau Be­rog­gi ist für sie seit Jah­ren nicht nur eine um­sich­ti­ge Ta­ges­mut­ter, son­dern eine Art Er­satz­gross­mut­ter ge­wor­den.

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«Entspricht nicht den Kri­te­ri­en»

Nun ist Käthi Be­rog­gis klei­nes Glück be­droht. Nicht weil die Mut­ter Be­den­ken hät­te oder die Al­ters­heim­lei­tung mit den Kin­der­be­su­chen nicht ein­ver­stan­den wä­re. Der Ge­mein­nüt­zi­ge Frau­en­ver­ein Zü­rich (GFZ) hat den Ta­ges­mut­ter-Ver­trag mit Kä­thi Be­rog­gi ge­kün­digt. Die Rent­ne­rin ver­steht die Welt nicht mehr. «Kürz­lich ha­ben sie mir noch zum 10-Jahr-Ju­bi­lä­um gra­tu­liert, 100 Fran­ken in Aus­sicht ge­stellt und ge­fragt, was ich denn für Blu­men wol­le», sagt sie.

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Michelle Cas­tel­li, Lei­te­rin Ta­ges­fa­mi­lien beim GFZ, be­grün­det die Kün­di­gung fol­gen­der­mas­sen: «Eine 76-jäh­ri­ge Frau, die im Al­ters­heim lebt, ent­spricht nicht un­se­ren Kri­te­rien einer Ta­ges­mut­ter.» Und wa­rum hat das GFZ erst vor einem Jahr der da­mals 75-Jäh­ri­gen noch einen neu­en Ver­trag aus­ge­stellt? «Letz­tes Jahr ha­ben al­le Ta­ges­müt­ter einen neu­en Ver­trag er­hal­ten, weil wir vor drei Jah­ren mit dem Ta­ges­müt­ter-Ver­ein fu­sio­nier­ten», er­klärt Cas­tel­li. Mit dem Ein­tritt ins Al­ters­heim ha­be sich die Si­tua­tion von Kä­thi Be­rog­gi grund­sätz­lich ver­än­dert. «Es steht der Rent­ne­rin aber frei, wei­ter­hin nach­bar­schaft­li­che Kon­tak­te zu den Kin­dern zu pfle­gen und sie im Al­ters­heim zu se­hen.»

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Käthi Be­rog­gi kann die­se Ar­gu­men­te nicht ver­ste­hen: «Wa­rum soll ich als Pen­sio­nier­te im Al­ters­heim kei­ne Kin­der be­treu­en und da­für be­zahlt wer­den? Ge­ra­de jetzt ha­be ich doch so viel Zeit wie noch nie in mei­nem Le­ben.» Zu­dem hat sie viel Er­ziehungs­er­fah­rung. Sie hat selbst zwei Kin­der gross­ge­zo­gen und freut sich an zwei En­keln und zwei Ur­en­keln. Als Ta­ges­mut­ter wür­de sie eini­ge Hun­dert Fran­ken ver­die­nen, aber da­rum geht es Kä­thi Be­rog­gi nicht. «Es geht mir um das Wohl der Kin­der», sagt sie.

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«Ich kämpfe weiter»

Marina Schmid, die Mut­ter der bei­den Mäd­chen, ist al­lein­er­zie­hend. Sie muss früh aus dem Haus und kommt abends oft spät heim, denn sie ar­bei­tet als Putz­frau und Kü­chen­hil­fe. Auch ihr hat der GFZ den Ver­trag ge­kün­digt. In einem bei­lie­gen­den Brief heisst es: «Wir hof­fen sehr, Sie kön­nen zu­sam­men mit Ih­rer So­zial­ar­bei­te­rin eine gu­te Lö­sung für die Be­treu­ung ih­rer Töch­ter fin­den.» Doch die Mut­ter ist si­cher, dass Kä­thi Be­rog­gi gar nicht er­setzt wer­den kann. «Für mich ist sie wie eine eige­ne Mut­ter. Wir ha­ben jah­re­lang auf dem glei­chen Stock­werk ge­lebt. Sie war bei der Ge­burt von Gio­van­na da­bei, und wenn eines der Kin­der krank war und ich ar­bei­ten muss­te, hat sie nach ih­nen ge­schaut.»

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Rentnerin Be­rog­gi gibt nicht auf: «Ich kämp­fe trotz Kün­di­gung wei­ter.» Im Al­ters­heim wer­den ihr da­bei kei­ne Stei­ne in den Weg ge­legt. «Wir freu­en uns, wenn die Mäd­chen ins Haus kom­men», sagt Heim­lei­ter Fre­dy Hug. Kein Wun­der, denn nicht nur Kä­thi Be­rog­gi hat ge­merkt: «Die al­ten Men­schen blü­hen auf, wenn sie die Kin­der se­hen.»

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