Der Churer Bischof Vitus Huonder will wieder verheiratete Geschiedene nicht zu den Sakramenten zulassen. Die Ehe sei unauflöslich. Nur Geschiedene, die allein blieben, gäben «ein kostbares Zeugnis für die Unauflöslichkeit der Ehe». Das schreibt Huonder in seinem noch unveröffentlichten Hirtenbrief zur Fastenzeit. Alle Pfarrer des Bistums Chur müssen diesen am Sonntag, 11. März, von der Kanzel verlesen.
Huonder vertritt zwar die offizielle Lehrmeinung der Kirche. Aber selbst auf Bischofsebene ringt man um einen barmherzigeren Umgang mit den Geschiedenen. Die meisten Pfarrer des Bistums, dem auch Zürich angehört, lassen Geschiedene in Zweitehen an den Sakramenten teilnehmen. Das sei auch richtig so, sagt der frühere Wiener Weihbischof Helmut Krätzl: «Sonst vermittelt die Kirche das Bild eines strafenden Gottes, der keinen Neuanfang gewährt.»
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Wieder verheiratete Geschiedene dürfen nicht zu den Sakramenten zugelassen werden. Geschiedene sollen auf eine zweite Ehe verzichten oder enthaltsam miteinander leben. Das müssen alle Pfarrer des Bistums Chur am Fastensonntag, dem 11. März, von den Kanzeln verkünden. So will es der (noch nicht veröffentlichte) Hirtenbrief «Ein Wort zur Ehe heute» des Churer Bischofs Vitus Huonder. Seine Botschaft zu Ostern: Alle Geschiedenen im Lande, die nicht allein bleiben mögen, leben in schwerer Sünde. Darum sollen sie von dem ausgeschlossen bleiben, was die Kirche für ihr Herzstück hält: von den Sakramenten.
So weit also hat sich die Kirche der Traditionalisten von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt. Meilenweit entfernt aber auch von der Botschaft Jesu: Der Wanderprediger aus Nazareth wäre der Letzte gewesen, der das Scheitern der Menschen bestraft und ihnen keinen Neuanfang ermöglicht hätte. Den Evangelien zufolge fühlte sich Jesus gerade Menschen mit Brüchen in ihrer Biografie besonders nahe und schenkte ihnen neue Lebensperspektiven.
Bischof Huonder aber orientiert sich nicht am Evangelium, sondern am Kirchenrecht. Weil er die offizielle Lehrmeinung der Kirche vertritt, fühlt er sich zu diesem neuen Affront gegenüber einem Grossteil der Bevölkerung berechtigt. Allerdings: Selbst auf der Bischofsetage sucht man seit Jahrzehnten nach einem barmherzigeren Umgang mit wieder verheirateten Geschiedenen. Sogar Joseph Ratzinger hatte sich als junger Theologe dafür starkgemacht. Und in den Pfarreien — auch des Bistums Chur — lassen die allermeisten Pfarrer Geschiedene in Zweitehen selbstverständlich an den Sakramenten teilnehmen.
Bischof Huonders Vorgehen hat fast schon Methode. Er liebt es, in strittigen Fragen vorzuprellen und seine Kollegen in der Schweizer Bischofskonferenz rechts zu überholen. Ob in der Frage der lateinischen Messe, des schulischen Sexualkundeunterrichts, der Predigt von Laien in der Eucharistiefeier — immer gibt er seine Stimme als die offiziell kirchliche aus, ohne seine Mitbischöfe zu konsultieren. Statt als Menschenfreund zeigt er sich als unbarmherziger Hirte.
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Die katholischen Priester sollen Wiederverheirateten die Sakramente verweigern. Dies fordert Bischof Vitus Huonder in seinem neuen Hirtenbrief. Pfarrer aus dem Bezirk Horgen verweigern ihm nun die Gefolgschaft: Kaum einer mag den Brief in der Kirche verlesen.
Thomas Hartmann, Pfarreibeauftragter aus Oberrieden, hält den Hirtenbrief für «nicht zumutbar». Das sei der falsche Weg, um die Institution der Ehe zu schützen. Für Michael Kerssenfischer, Diakon der Kirchgemeinde Hirzel-Schönenberg-Hütten stehen die Worte Vitus Huonders im Widerspruch zum Evangelium, das Barmherzigkeit predigt. Er orientiere sich am Wirken von Jesus, sagt Kerssenfischer, «und der ist nicht mit dem Kirchengesetz unter dem Arm herumgelaufen». Den Hirtenbrief vorzulesen, hält er für «unverantwortlich».
Josip Knezevic von der katholischen Pfarrei in Rüschlikon hingegen will dem Bischof sein Recht nicht verweigern, zu seinem Bistum zu sprechen. Auch er ist aber «nicht glücklich» über den Hirtenbrief und die Diskriminierung der Wiederverheirateten: «Ich werde mir nicht anmassen, jemandem vor dem Glück zu stehen, der seine Liebe gefunden hat», sagt Knezevic. Schliesslich sei er «Seelsorger, kein Richter».
Sündig sind noch viele
Mit dem Inhalt des Hirtenbriefs schade der Bischof der Kirche, sagt der Oberriedner Markus Arnold, Studienleiter des Religionspädagogischen Instituts in Luzern. Die Ehe sei anspruchsvoller, Scheidungen seien oft unumgänglich geworden. Eine zweite Ehe werde meist nicht leichtfertig eingegangen. Solche Paare nun von den Sakramenten auszuschliessen, sei nicht angebracht und auch nicht praktikabel. «Ich bin überzeugt, dass heute bei feierlichen Gottesdiensten die Hälfte der Anwesenden die Kommunion nicht empfangen dürfte», sagt Markus Arnold. Denn sündig in den Augen der katholischen Kirche sind auch Geschiedene, im Konkubinat lebende Paare, Frauen, welche die Pille nehmen oder abtreiben, sowie Männer, die dieses zulassen.
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Zürich — Am kommenden Wochenende sollen die Zürcher Seelsorger im Gottesdienst einen Hirtenbrief von Diözesanbischof Vitus Huonder verlesen. Unter dem Titel «Die Ehe soll von allen in Ehren gehalten werden» bekräftigt dieser, dass Geschiedene nicht zu den Sakramenten zugelassen werden sollen (TA vom 3.3.). Gestern hat sich der Seelsorgerat des Kantons Zürich dazu geäussert. «Mit grosser Betroffenheit» hätten die Mitglieder des Rats den Hirtenbrief ihres Bischofs zur Kenntnis genommen, schreibt er in einer Mitteilung.
Er teile die Sorge um die christliche Gestaltung der Ehe und wisse auch um die Weisungen der Kirche. Er verweist aber auch auf die vielschichtige Problematik, wenn es um die Zulassung zur Kommunion von wiederverheirateten Geschiedenen geht, und stellt die Frage in den Raum, ob solch strikte Weisungen auch in jedem Fall dem Heil der betroffenen Menschen dienten. Schliesslich kenne das Evangelium auch «das Gesetz der Barmherzigkeit». «Dieses vermissen wir im Hirtenbrief unseres Bischofs», schreibt der Seelsorgerat weiter. Danach dankt er allen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die auch geschiedenen und wiederverheirateten Menschen helfen, ihren Weg mit Gott und in der Eucharistiegemeinschaft der Kirche zu gehen. Der Seelsorgerat ist das Beratungsgremium des Generalvikars für die Kantone Zürich und Glarus.
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Die Ablehnung des Hirtenbriefes, der Wiederverheiratete von den Sakramenten ausschliesst, sei unter Pfarrern und der Kirchenbevölkerung extrem. Das sagt der Winterthurer Pfarrer und Dekan Hugo Gehring. «Sogar Traditionalisten leiden darunter, weil ja fast alle Geschiedene in der Familie haben.» Bischof Huonders Forderung, Geschiedene, die nicht alleine bleiben wollen, nicht zur Kommunion und den anderen Sakramenten zuzulassen, hält Gehring für schlicht unbarmherzig. Namens zahlreicher Seelsorger hat er eine Stellungnahme verfasst. Darin heisst es: «Wir werden diesen Hirtenbrief in unseren Kirchen nicht verlesen. Wir möchten uns inhaltlich und formal von diesem bischöflichen Schreiben deutlich distanzieren.» Ihm würden selbst kirchentreue Leute für die Stellungnahme danken.
Gehring weiss von einem einzigen Priester im Dekanat Winterthur, der den Brief am morgigen Fastensonntag verlesen wird, wie das der Bischof wünscht. Er erinnert sich, dass Theologen schon in seiner Studienzeit in den 70er-Jahren einen barmherzigeren Umgang mit Wiederverheirateten forderte. Inzwischen verlangten das auch zahlreiche Bischöfe — der Brief von Huonder bedeute einen «gewaltigen Rückschritt».
«Protest und Unruhe schüren»
Viele Pfarrer im Bistum Chur haben sich in Stellungnahmen oder via Medien vom Hirtenbrief distanziert. Im Kanton Nidwalden hat die Dekanatsversammlung am Mittwoch einstimmig beschlossen, den Brief nicht zu verlesen: «Statt die Frohbotschaft zu verkünden – wie es unsere Aufgabe ist —, würden wir Ärger, Unruhe und Protest hervorrufen, und zwar gerade bei jenen Menschen, die zu Recht ein Wort der Ermutigung und der Stärkung nötig hätten.» Die Seelsorger sehen sich deshalb verpflichtet, auch nach diesem Hirtenbrief wiederverheiratete Geschiedene zu den Sakramenten zuzulassen.
So will es auch der Stellvertreter von Bischof Huonder handhaben, der Zürcher Generalvikar Josef Annen. Er stellt sich hinter eine entsprechende Erklärung des Zürcher Seelsorgerats.
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Bischof Vitus Huonder steht ziemlich allein mit seiner Ablehnung von Zweitehen.
Foto: Martin Rütschi (Keystone)
Bischof Vitus Huonder steht ziemlich allein mit seiner Ablehnung von Zweitehen.
Foto: Martin Rütschi (Keystone)
«Wir werden diesen Hirtenbrief in unseren Kirchen nicht verlesen. Wir möchten uns inhaltlich und formal von diesem bischöflichen Schreiben deutlich distanzieren.» Das schreibt der Winterthurer Dekan und Pfarrer Hugo Gehring im Namen zahlreicher Seelsorger aus der Region Winterthur und dem Zürcher Unterland in einer Stellungnahme. Von allen Mitgliedern der katholischen Kirche, die in getrennter Ehe lebten, zu verlangen, unverheiratet zu bleiben, sei «nach unseren Erfahrungen unmenschlich und von der christlichen Botschaft so nicht ableitbar».
Gemäss Weisung des Churer Bischofs soll der Hirtenbrief am morgigen Fastensonntag von allen Kanzeln des Bistums Chur verlesen werden (TA vom 3. März). Kaum je hat ein Hirtenbrief schon im Vorfeld so viel Staub aufgewirbelt und so viel Ablehnung provoziert. Vitus Huonder beruft sich auf die offiziellen amtskirchlichen Vorgaben und verlangt, die wiederverheirateten Geschiedenen seien von den Sakramenten auszuschliessen. Den Worten Jesu zufolge sei die Ehe unauflöslich. Darum kämen Geschiedene durch «ihre Entscheidung, eine neue Partnerschaft einzugehen, in eine Situation, die den Empfang der Sakramente verunmöglicht». Nur Getrennte und Geschiedene, die alleine blieben, gäben «ein kostbares Zeugnis für die Unauflöslichkeit der Ehe», so Huonder.
«Es ging hoch zu und her»
Laut Christian Breitschmid, dem Informationsbeauftragten des Zürcher Generalvikariats, hat Bischof Huonder ein Reizthema aufgegriffen und mehr Ablehnung als Befürwortung provoziert. «Die ganze Woche über ging es hoch zu und her. Die Medien haben flächendeckend über den Hirtenbrief berichtet.» Von Priestern höre er überwiegend sehr kritische Kommentare. Breitschmids Einschätzung nach wird eine Mehrheit der Pfarrer den Hirtenbrief am Sonntag nicht verlesen und die Praxis beibehalten, auch Wiederverheiratete zu den Sakramenten zuzulassen.
Selbst der Zürcher Generalvikar Josef Annen — also der Stellvertreter von Bischof Huonder — steht laut Breitschmid voll und ganz hinter dem Wortlaut der am Mittwoch vom Zürcher Seelsorgerat verabschiedeten Erklärung. Darin heisst es: «Deshalb danken wir allen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die auch geschiedenen und wiederverheirateten Menschen helfen, ihren Weg mit Gott und in der Eucharistiegemeinschaft der Kirche zu gehen.» Der Rat ermuntert die Seelsorger also ausdrücklich, Menschen in Zweitehen zur Kommunion und zu den Sakramenten zuzulassen. Der Hirtenbrief lasse «das Gesetz der Barmherzigkeit» vermissen, wie es das Evangelium verkündet, findet der Zürcher Rat.
«Sind wir nicht alle Sünder?»
Die Seelsorger im Kanton Nidwalden haben an der Dekanatsversammlung vom Mittwoch gar einstimmig beschlossen, «dass dieser Brief nicht im Gottesdienst verlesen werden kann. Statt Frohbotschaft zu verkünden — wie es unsere Aufgabe ist –, würden wir Ärger, Unruhe und Protest hervorrufen, und zwar gerade bei Menschen, die zu Recht ein Wort der Ermutigung und der Stärkung nötig hätten.» Die Nidwaldner Seelsorger werden daher weiterhin geschiedenen Wiederverheirateten den Empfang der Sakramente (Kommunion, Versöhnung, Krankensalbung) gewähren. «Uns ist wichtig, dass wir als Kirche offen und einladend sind für alle Menschen.»
Im Dekanat Innerschwyz hingegen sind die Meinungen unter den Pfarrern geteilt, wie der dortige Dekan, Pfarrer Konrad Burri, sagt: «Es gibt einige Pfarrer, die den Brief vorlesen werden.» Er selber hat entschieden, den bischöflichen Brief nicht zu verlesen. «Jemanden zurückzuweisen, von dem ich weiss, dass er wiederverheiratet ist, kommt für mich nicht in Frage. Das können Menschen mit einer echten christlichgläubigen Haltung sein», sagt Burri. Jeder müsse es mit seinem Gewissen selbst ausmachen, ob er zur Kommunion gehe oder nicht. «Das können wir Priester nicht beurteilen», sagt Burri und fragt: «Wo ist in diesen Richtlinien die Barmherzigkeit gegenüber dem Sünder? Sind wir nicht alle Sünder?»
Pfarrer Marcus Flury vom bündnerischen Vella wird morgen Sonntag im Gottesdienst auf den Hirtenbrief hinweisen. Er kann ihm durchaus auch Positives abgewinnen — etwa dass er auf die notwendige Ehevorbereitung aufmerksam mache. Marcus Flury hat Bischof Huonders Hirtenbrief ins Romanische übersetzt und ist bereit, mit jedem darüber zu reden, der dies wünsche. Verlesen wird aber auch er den Brief nicht. «Im Dorf kennt jeder jeden. Würde ich den Brief verlesen, würde ich Betroffene, die am Gottesdienst teilnehmen, an den Pranger stellen.» Ob jemand zur Kommunion gehen wolle, sei ein Entscheid, den jeder selber fällen müsse. «Ich weiss ja auch nicht, ob solche, die als sehr fromm gelten, wirklich würdig sind, die Kommunion zu empfangen.»
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Lachen kommt in der Bibel nicht vor»: Karikaturist Schaad (l.) und Grossmünster-Pfarrer Sigrist. Foto: Dominique Meienberg |
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Bischof Vitus Huonder schreibt einen Hirtenbrief. |
Angela Merkel bei der Eröffnung des WEF in Davos. |
Lachen kommt in der Bibel nicht vor»: Karikaturist Schaad (l.) und Grossmünster-Pfarrer Sigrist.
Foto: Dominique Meienberg
Winterthur — Darauf hat er sich gefreut: Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist besucht das Atelier, in dem «Tages-Anzeiger»-Karikaturist Felix Schaad seine erste Einzelausstellung in Eglisau vorbereitet. Die beiden kennen sich, und sie beginnen zu diskutieren. Sie beugen sich über die Originalkarikaturen aus dem TA, die Schaad für seine erste Einzelausstellung bereit macht.
Christoph Sigrist: Da, die Karikatur zum Hirtenbrief von Bischof Huonder, in der sich Jesus am Kruzifix über den Gottesmann ärgert. Was geht da in dir ab, bis die Zeichnung so herauskommt?
Felix Schaad: Offen gestanden bin ich wegen dir darauf gekommen. Ich habe mich an diesem Tag recht schwer getan mit dem Thema. Und dann ist mir ein Gespräch mit dir in den Sinn gekommen. Du hast damals gesagt, dass dir «Don Camillo und Peppone» so gut gefällt, die Filme mit Fernandel aus den 50er-Jahren, in denen Jesus vom Kreuz zum Pfarrer spricht. Dann habe ich mir gedacht: Das ist es! Das war die Zündung, du hast mich gerettet. (Beide lachen.) Die Zeichnung hatte ich dann so gegen halb acht Uhr abends grob fertiggestellt — und dann sind mir noch sechs weitere mögliche Sujets eingefallen. Ich habe die alle dem zuständigen Tagi-Redaktor gezeigt, aber wir wussten sofort: Der mit dem Jesus ist es.
Sigrist: Warum?
Schaad: Er war der direkteste Zugang zum Thema, aber auch der frechste.
Was sagt der Grossmünster-Pfarrer darauf, wenn der Karikaturist die Kirche so frech zum Thema macht?
Sigrist: Felix Schaad reiht sich hier ein in eine uralte Tradition. Das ist in der Kirchengeschichte immer wieder passiert, dass Leute der Kirche einen Spiegel vorgehalten haben. In diesem Fall geht es ja darum, dass nicht nur die Kirche — hier die katholische, aber oft genug betrifft das auch die reformierte — manchmal Entscheide trifft, von denen ich das Gefühl habe, sie seien sehr weit weg von dem, was die Menschen bewegt und was eigentlich die Botschaft von Jesus ist. Diese Karikatur ist ein Kommentar zum aktuellen Geschehen, genau so, wie ich ihn von dir erwarte. Das ist für mich etwas vom Feinsten, höchstes Niveau. Damit gibst du den Menschen etwas, an dem sie sich orientieren können.
Es gab böse Leserbriefe auf die Karikatur. Können Sie verstehen, dass sich Leute durch die Karikatur verletzt fühlen?
Schaad: Wenn die Leser eine lustige Zeichnung sehen, gehen sie automatisch davon aus, dass alles, was darauf abgebildet ist, durch den Kakao gezogen wird. Ich denke aber, derjenige, der hier am wenigsten durch den Kakao gezogen wird, ist dieser Jesus am Kreuz.
Sigrist: Man kann sich verletzt fühlen, wenn man die Zeichnung quasi buchstabengetreu liest. Man sieht dann einfach die Instrumentalisierung des Kruzifixes. Und da frage ich: Wie häufig wird das Kreuz sonst noch instrumentalisiert? Aber Felix arbeitet ja viel subtiler. Die Botschaft befindet sich gewissermassen «zwischen den Zeilen», zwischen den Strichen. Und das ist für mich fantastisch. So dürfte er auch einen biblischen Text interpretieren. Aber dass das nicht alle so lesen können, ist verständlich.
Hier eine ganz andere Karikatur: Angela Merkel in Davos.
Sigrist: Die Zeichnung spricht mich an, weil die Bergwelt zu meiner Welt gehört. Ich bin auch oft in Davos. Du nimmst diese Welt und stellst damit verdichtet ein Problem dar: Schneeberge werden zu Schuldenbergen.
Wie in einem biblischen Gleichnis?
Sigrist: Ja, genau. Jesus hat häufig so gearbeitet …
Schaad: … aber nicht mit Schneebergen.
Sigrist: Es geht ja darum: Du, Felix, holst die Betrachter mit etwas ab, das sie gut kennen, und du verfremdest das. Damit löst du ein Aha-Erlebnis aus. Jesus hat dafür nicht die Schneeberge herangezogen, sondern zum Beispiel ein Senfkorn. Er hat gesagt, das Senfkorn ist so klein, aber daraus wächst ein riesiger Baum. Ein anderes Beispiel: Jesus stellt das Paradox, dass ein Reicher nicht glücklich wird, mit dem Bild vom Kamel und vom Nadelöhr dar. Ich könnte mir gut vorstellen, dass du so etwas auch zeichnest.
Schaad: Na ja, dieses Bild gibt es schon. Meine Aufgabe als Karikaturist ist es, diesem Bild zusätzlich einen witzigen Drall zu geben.
Gibt es noch mehr, was Felix Schaad mit Jesus Christus verbindet?
Sigrist: Ja, klar. Du bist gesellschaftskritisch, du bist parteiisch für die, die unter die Räder kommen.
Schaad: Karikatur funktioniert nur so. Sie geht immer von den Schwachen aus und nimmt für sie Partei. Der Blick richtet sich von unten nach oben …
Sigrist: … auch in der Bibel ist genau das eine Essenz: Gott ist parteiisch für die Schwachen. Und du hältst denjenigen den Spiegel vor, die die Schwachen niedertrampeln. Die Veränderung zum Besseren ist die Botschaft.
Der Karikaturist verändert die Welt?
Schaad: Na ja. Eigentlich will ich vor allem die Betrachter zum Lachen bringen. Wenn die Leute schmunzeln, ist für mich das Fuder schon geführt. Und wenn dann auch noch etwas hängen bleibt, jemand ins Grübeln kommt — umso besser. Aber ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass ich irgendetwas verändere.
Sigrist:
Da muss ich widersprechen: Indem du die Leute zum
Lachen bringst, veränderst du. Lachen befreit,
um anders denken können —
vor allem in seiner verdichtetsten Form, dem Lachen über sich selber.
Schaad: Und: Es ist verbindend.
Sigrist: Genau, das Lachen ist die kürzeste Distanz zwischen zwei Menschen. Auch darum ist das Lachen für mich die Schwester des Glaubens. Und da komme ich wieder ins Spiel: Ich möchte als Prediger dasselbe bewirken wie du als Karikaturist. Du predigst mit dem Zeichenstift, so wie ich mit Worten.
Schaad: Jetzt muss ich aber widersprechen. Der grosse Unterschied ist, dass ich mich als Karikaturist an einem Ort betätige, von dem die Leute unterdessen wissen: Das ist eine Karikatur, da soll man, da darf man lachen. Aber Kirchen sind umgekehrt ja genau der Raum, den man nicht mit dem Lachen in Verbindung bringt. Ich wurde so erzogen, dass ich weiss: In einer Kirche ist man leise und ernst.
Lachen bei Ihren Predigten die Gottesdienstbesucher im Grossmünster, Herr Sigrist?
Sigrist: Gar nicht so selten. Man muss aber eines wissen: Lachen ist die einzige Gefühlsregung, die in der Bibel nie vorkommt. Jesus lacht nie. Aber das glaube ich nicht. Jesus muss doch ein fröhlicher Mensch gewesen sein.
Dennoch: Ernst dominiert die Kirche.
Sigrist: Es gibt Ausnahmen, etwa das Osterlachen. Im Mittelalter mussten die Priester die Osterfreude mit Witzen fördern. Weil da auch ziemlich schlüpfrige Witze erzählt wurden, wurde das verboten. Damit verstummten nicht nur die Witze, sondern auch das Lachen
Christoph Sigrist macht Sie quasi zu einem Prediger. Wie kommt das bei Ihnen an, Felix Schaad?
Schaad: Mein Ruf als Karikaturist ist ruiniert. (Beide lachen.)
Sigrist: Du bist in deiner Art ein Prediger im besten Sinn. Du hast das ja vorhin auch bestätigt: Du machst das nicht einfach, weil du vom Tagi einen Auftrag hast, sondern du willst etwas bewirken. Da sind wir beide uns sehr nahe.
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Zürich/Chur — Ein langes Papier von über 24 Seiten, das weit über einen Hirtenbrief hinausgeht, provoziert die katholische Kirche in Zürich und in der Urschweiz. In seinen jüngsten Anweisungen, die am Donnerstag an die Medien gelangten, erinnert Bischof Vitus Huonder daran, dass die Gläubigen das Recht auf eine «Liturgie ohne Missbräuche und ohne Eigenmächtigkeiten vor Ort» hätten. Diese Äusserung des Oberhirten hat die Generalvikariate Zürich-Glarus sowie Urschweiz auf den Plan gerufen. Huonder finde kein gutes Wort an der Feier des Gottesdienstes, kritisierten sie gestern in einem Communiqué. Sie werfen dem Bischof vor, die «bewährte bisherige Praxis der Feier der Liturgie infrage zu stellen».
«Ist das wirklich ein Skandal?»
Franz Stampfli, Domherr im Generalvikariat Zürich, ist entrüstet, dass Huonder die Arbeit der Seelsorger nur negativ darstelle und über alles schimpfe, was aus seiner Sicht falsch laufe: «Er macht genau das, was früher die Gegner der Kirche getan haben.» Missbräuche seien für ihn, dass die Seelsorger auf Dialekt statt in Schriftdeutsch predigen. Dass sie Kirchgänger das Sakrament der Kommunion empfangen lassen, auch wenn sie in schwerer Sünde leben. Und dass Laien während der heiligen Messe am Sonntag predigen — statt ausschliesslich Priester oder Dekane. Stampfli fragt sich: «Ist das wirklich ein Skandal?» Nicht ein einziges Wort des Lobes und des Dankes sei aus Chur zu vernehmen.
Gelassen reagierte der bischöfliche Sprecher Giuseppe Gracia auf die Empörung aus Zürich und der Innerschweiz: «Einzelstimmen kommentieren wir nicht.» Und fügte bei: «Das Communiqué aus Zürich ist für uns eine Bestätigung, dass der Bischof richtige Sachen erwähnt, die wichtig sind.»
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