Serie

Der entkommene Kinderschänder

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( TA )

Eine un­er­träg­li­che Ge­schich­te

Der «Ta­ges-An­zei­ger» be­rich­tet in einer vier­tei­li­gen Se­rie von einem schoc­kie­ren­den Fall von Kin­des­miss­brauch. Der Tä­ter, rechts­kräf­tig ver­ur­teilt, konn­te sich vor Straf­an­tritt ins Aus­land ab­set­zen.

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1. Wie ein zusammen­ge­flick­ter Zombie

Zwei Frau­en wur­den als Kin­der jah­re­lang miss­braucht. Nach 14 Jah­ren gin­gen sie vor Ge­richt. 6 Jah­re pro­zes­sier­ten sie und be­ka­men in al­len In­stan­zen recht. Trotz­dem ist der Kin­der­schän­der ent­kom­men.

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Von Michèle Binswanger
Opfer
Ohn­mäch­ti­ge Op­fer, eine ohn­mäch­ti­ge Jus­tiz, eine zer­stör­te Kind­heit.

Foto: Keystone

Opfer
Ohn­mäch­ti­ge Op­fer, eine ohn­mäch­ti­ge Jus­tiz, eine zer­stör­te Kind­heit.

Foto: Keystone

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Er nann­te sie «mei­ne bei­den Schlämp­li». Sie wa­ren Kin­der­gar­ten­kin­der, als es be­gann, und es hör­te auf, als sie zehn Jah­re alt wa­ren. Wei­te­re vier­zehn Jah­re dau­er­te es, bis die bei­den Frau­en, Emi­ly und Yvon­ne, bes­te Freun­din­nen, eine Spra­che fan­den für das Leid, das Hu­ber ih­nen an­ge­tan hat­te.

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Er ver­ge­wal­tig­te sie zu Hau­se im Bü­ro und im Auto. Er führ­te ih­nen Ge­gen­stän­de ein, Bar­bie­pup­pen, Ku­gel­schrei­ber, Krei­den. Manch­mal steck­te er ih­nen einen Re­vol­ver in den Mund. Nahm sie hin­ters Haus, gab ih­nen bun­te Plas­tik­schau­feln — sol­che, mit de­nen nor­ma­le Kin­der den Sand­kas­ten um­gra­ben — be­fahl, zwei Grä­ber zu schau­feln, zeig­te ih­nen Fo­tos ver­kohl­ter Lei­chen. Emi­ly, sei­ne Toch­ter, kann­te das schon. Yvon­ne fürch­te­te sich zu To­de. So wer­de er die Mut­ter, die Schwes­ter, den Hund um­brin­gen, wenn Yvon­ne ih­rem Va­ter et­was sa­ge. Manch­mal nahm Yvon­ne Wat­te mit oder ein fri­sches Un­ter­hös­chen, da­mit zu Hause nie­mand et­was merk­te. Denn das durf­te nie­mand wis­sen. Was wür­den die El­tern den­ken, dass sie so eine ist? Das hat­te er ihr ein­ge­schärft. Oh­ne­hin re­de­te man bei Yvon­ne zu Hau­se nicht über sol­che Sa­chen.

An ihrer Tür steht nur ein Vor­na­me, kein Nach­na­me. Sie will nicht, dass er sie fin­det.

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Noch immer hat sie Angst

Heu­te ist Yvon­ne 29 Jah­re alt, Web­de­sig­ne­rin mit Aus­zeich­nung. Wenn sie er­zählt, zupft sie an ih­ren Klei­dern, der Kör­per vol­ler Span­nung. Oft blickt sie weg, in die Ec­ke. Aber die Stim­me bleibt klar und fest. «Ich wä­re ger­ne stär­ker», sagt sie. An der Tür ih­rer Woh­nung steht nur ein Vor­na­me, kein Nach­na­me. Sie will nicht, dass er sie fin­det. Soll­te sie je­mals et­was sa­gen, droh­te Hu­ber da­mals, wer­de er sie fin­den. Auch in dreis­sig Jah­ren. Sie hat Angst, im­mer noch.

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Zu­letzt ge­se­hen hat sie ihn vor Ge­richt, vor et­was mehr als einem Jahr. Das Kan­tons­ge­richt in der Ost­schweiz hat­te ihn zum zwei­ten Mal we­gen Ver­ge­wal­ti­gung, mehr­fa­cher qua­li­fi­zier­ter Ver­ge­wal­ti­gung, In­zest, mehr­fa­cher se­xu­el­ler Nö­ti­gung und mehr­fa­chen se­xu­el­len Hand­lun­gen mit Kin­dern schuldig er­klärt und zu einer Frei­heits­stra­fe von sechs Jah­ren ver­ur­teilt. Nur hat der Tä­ter sei­ne Stra­fe nicht an­ge­tre­ten. Er ist ver­schwun­den.

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Es ist dies eine Ge­schich­te, die von der Ohn­macht der Op­fer se­xu­el­ler Ge­walt be­rich­tet und der Ohn­macht der Jus­tiz vor ih­ren eige­nen An­sprü­chen. Eine Lei­dens­ge­schich­te, die vor vier­und­zwan­zig Jah­ren ih­ren An­fang nahm und in einen Pro­zess mün­de­te, der sich fast sechs Jah­re hin­zog. Der drei ver­schie­de­ne Ge­rich­te be­schäf­tig­te, zwei An­wäl­tin­nen und einen Pflicht­ver­tei­di­ger, Gut­ach­ter und Beam­te der Op­fer­hil­fe, Po­li­zi­sten, Psy­chia­ter und The­ra­peu­tin­nen. Die Ak­ten da­zu fül­len einen gros­sen Kar­ton, Yvon­ne nennt ihn die Er­in­ne­rungs­box. Es ist aber auch eine Ge­schich­te, die zeigt, dass es rich­tig war, Se­xu­al­de­lik­te an Kin­dern un­ver­jähr­bar zu ma­chen — auch wenn die­se Be­stim­mung die Jus­tiz vor gros­se Her­aus­for­de­run­gen stellt, im Kin­des­al­ter er­fah­re­nes Un­recht zu süh­nen.

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Für Yvon­ne be­gann al­les im Jahr 1988. Da­mals zog Hu­ber mit sei­ner Frau, Emi­ly und einer zwei­ten Toch­ter ins Dorf. 500 Ein­woh­ner, be­schau­li­che Häu­ser, am Dorf­rand Neu­bau­ten, herr­li­che Berg­ku­lis­se. Yvon­ne lern­te Emi­ly im Kin­der­gar­ten ken­nen, ein wil­des Kind, et­was ver­wahr­lost auch. Emi­ly sei aso­zi­al, sag­ten Yvon­nes El­tern. Für Yvon­ne war sie et­was Be­son­de­res, auch wenn die an­de­ren Kin­der das wil­de Mäd­chen mie­den.

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Dann bekam er den irren Blick

Emi­ly und Yvon­ne wur­den Freun­din­nen. Emi­ly hat­te oft blaue Flec­ken, be­nutz­te vul­gä­re Wör­ter. Und im­mer wie­der be­rich­te­te sie, wie sie mit dem Va­ter Spa­gat üben muss­te, bis es blu­te­te. Mit den Pup­pen spiel­te sie Ver­ge­wal­ti­gung. Manch­mal ging Emi­ly auf Yvon­ne los. Es war eine Hass­lie­be. Aber Emi­ly fas­zi­nier­te Yvon­ne. Oft hat­te sie sturm­frei, dann schau­ten sich die bei­den Mäd­chen Dis­neys ge­sam­mel­te Wer­ke an.

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Emi­lys Va­ter war manch­mal auch da. Gross, ein Berg von einem Mann. Sehr nett, für­sorg­lich, er spiel­te mit den bei­den Mäd­chen, er­zähl­te ih­nen Ge­schich­ten, such­te ih­re Nä­he. Aber eines Ta­ges be­kam er die­sen ir­ren Blick. Er hol­te Yvon­ne zu sich ins Bü­ro: ein Bett, ein Tisch, ein Bild­schirm. Emi­ly wuss­te schon, was kom­men wür­de, und ver­schwand. Yvon­ne ist al­lein mit Emi­lys Va­ter. Er packt sein Ge­schlechts­teil aus. Er fasst Yvon­ne an. Sie will ge­hen, aber er lässt sie nicht weg. Dann ver­ge­wal­tigt er sie.

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Fünf Jah­re lang, im­mer wie­der. Bis zu je­nem Vor­fall im Früh­jahr 1993. Emi­ly und Yvon­ne wer­den vor Gericht aus­sa­gen, wie Hu­ber zu­sam­men mit zwei an­de­ren Män­nern sie in einen Kel­ler führ­te, sie an Ma­trat­zen ket­te­te. Dann stell­te er sie den bei­den, der eine ein Bo­dy­buil­der­typ, der an­de­re ein Dün­ner mit Kropf, zur Ver­fü­gung, wäh­rend er zu­schau­te. Die Män­ner amü­sier­ten sich über die Angst in den Augen der Kin­der. «Die sind ja noch nicht rich­tig ein­ge­rit­ten», sag­ten sie. So steht es in den Ak­ten der Er­in­ne­rungs­box, die Yvon­ne nur dann öff­net, wenn sie muss. Sie hofft im­mer noch, dass der Hu­ber sei­ne Stra­fe be­kommt.

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Yvonnes riesige Wut

Yvon­ne hat heu­te einen Job, eine Part­ner­schaft, Zu­kunfts­plä­ne. Sie schafft es, oh­ne Me­di­ka­men­te und Psy­cho­phar­ma­ka zu le­ben. Trotz der De­pres­sio­nen und der Pa­nik­at­tac­ken: «Ich füh­le mich wie ein zu­sam­men­ge­flick­ter Zom­bie», sagt sie. Yvon­ne hat aber auch eine Wut. Eine rie­si­ge Wut.

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Sechs Jah­re hat sie ge­gen den Tä­ter pro­zes­siert und in al­len In­stan­zen ge­won­nen. Sechs Jah­re lang be­such­te sie je­de Ein­ver­nah­me, An­hö­rung, liess ge­richts­me­di­zi­ni­sche Un­ter­su­chun­gen und Be­fra­gun­gen über sich er­ge­hen. Sie be­kam recht, vor dem Be­zirks­ge­richt, dem Kan­tons­ge­richt, dem Bun­des­ge­richt: Trotz­dem sitzt sie heu­te im Dun­keln in ih­rer Woh­nung und hat Angst, weil sie nicht weiss, wo Hu­ber ist. Wie konn­te das nur pas­sie­ren?

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2. Ein extrem anspruchsvoller Fall

Zwei Frau­en wur­den als Kin­der jah­re­lang miss­braucht, nach 14 Jahren gin­gen sie vor Ge­richt. Doch wie be­weist man Ta­ten, für die es kei­ne ob­jek­ti­ven Be­wei­se mehr gibt?

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Von Michèle Binswanger
Bad
Die Opfer haben keine präzise Erinnerung mehr an den Tatort.

Foto: Keystone

Bad
Die Op­fer ha­ben kei­ne prä­zi­se Er­in­ne­rung mehr an den Tat­ort.

Foto: Keystone

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Ein kal­ter De­zem­ber­abend im Jahr 2004. Yvon­ne sitzt im Zug nach Zer­matt, Win­ter­luft zieht durch die Fen­ster­rit­zen. Plötz­lich geht die Tür auf, und im Ab­teil steht Emi­ly. Acht Jah­re sind ver­gan­gen, seit die bei­den Frau­en sich zu­letzt ge­se­hen ha­ben. Emi­lys Fa­mi­lie war 1993 aus dem Dorf weg­ge­zo­gen, Emi­ly kam ins Kin­der­heim, von da in die Psy­chia­trie, ins be­treu­te Woh­nen, wie­der in die Psy­chia­trie. Yvon­ne ver­brach­te eine Jug­end mit schwar­zen Klei­dern, schwar­zen Ge­dan­ken, schwar­zer Wut. An­fangs schrieb sie Emi­ly spo­ra­disch, be­such­te sie im Kin­der­heim. Über die Vor­fäl­le spra­chen sie nie — es schien zu be­droh­lich. Dann ver­lo­ren sie sich aus den Augen. Bis zu die­sem De­zem­ber­abend im Zug. Auch jetzt spre­chen sie das The­ma nicht an. Aber sie ver­si­chern sich, in Kon­takt zu blei­ben, tau­schen Te­le­fon­num­mern und Ad­res­sen aus.

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Die Be­zie­hung zwi­schen den bei­den Frau­en, die in Wirk­lich­keit an­ders heis­sen, wird wäh­rend des Pro­zes­ses eine be­son­de­re Be­deu­tung be­kom­men. Wa­rum ha­ben die bei­den so kurz vor der Ver­jäh­rung der grau­sa­men Über­grif­fe plötz­lich doch noch be­schlos­sen, den Tä­ter zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen? Ha­ben sie sich ab­ge­spro­chen? Sind sie glaub­haft?

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Bildfetzen tauchen auf

Yvon­ne kommt aus einer in­tak­ten Fa­mi­lie, trotz ih­rer tur­bu­len­ten Ju­gend war sie nie in The­ra­pie. Kurz nach der Be­geg­nung schreibt ihr Emi­ly einen Brief. Ob Yvon­ne wis­se, was mit ihr ge­sche­hen sei. Dass der Va­ter sie, Emi­ly, jah­re­lang se­xu­ell miss­braucht ha­be. Yvon­ne weint. Ja, sie weiss es. Auch sie wur­de miss­braucht. Bild­fet­zen tau­chen auf, täg­lich neue. Nichts ist vor­bei, es be­ginnt ge­ra­de erst. Emi­ly ist in schlech­ter psy­chi­scher Ver­fas­sung, trotz jah­re­lan­ger The­ra­pie. Aber zu­sam­men be­schlies­sen die bei­den Frau­en, et­was zu un­ter­neh­men. Sie ge­hen zur Op­fer­hil­fe, schil­dern dort die Über­grif­fe. Man rät ih­nen zu­nächst von einer An­zei­ge ab. We­gen Yvon­ne. Oh­ne The­ra­pie wer­de sie das nicht durch­ste­hen.

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Dar­auf sucht Yvon­ne sich eine The­ra­peu­tin. In ih­rer ers­ten Stun­de sagt sie: «Ich wur­de als Kind jah­re­lang miss­braucht. Aber wenn sie mir Psy­cho­phar­ma­ka ge­ben, ge­he ich gleich wie­der.» Sie bleibt. Sie ar­bei­tet auf, was ge­sche­hen ist. Lernt, dass dies der Schlüs­sel ist zu ih­ren Prob­le­men. Der­weil be­rät die Op­fer­hil­fe die bei­den Frau­en, wie sie we­gen des Pro­zes­ses vor­ge­hen sol­len. Ma­xi­mal zwei Jah­re, sagt man Yvon­ne. Dann sei die Sa­che über die Büh­ne.

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Im August 2007 er­hebt die Staats­an­walt­schaft An­kla­ge ge­gen Hu­ber, Emi­lys Va­ter, we­gen mehr­fa­cher Ver­ge­wal­ti­gung, mehr­fa­cher se­xu­el­ler Nö­ti­gung, mehr­fa­cher se­xu­el­ler Hand­lun­gen mit Kin­dern. Da­mit be­ginnt ein In­di­zi­en­pro­zess von ge­wal­ti­gen Aus­mas­sen. Un­ge­heu­re An­schul­di­gun­gen ste­hen im Raum, Hu­ber, Last­wa­gen­fah­rer, ist be­reits we­gen eines Bank­über­falls vor­be­straft, be­zieht aber in­zwi­schen In­va­li­den­ren­te we­gen sei­ner Adi­po­si­tas. Er strei­tet al­les ab. Die bei­den Opfer sind psy­chisch la­bil. Ein ex­trem an­spruchs­vol­ler Fall.

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Die Grup­pen­ver­ge­wal­ti­gung fand 1993 statt. Die Frau­en wa­ren da­mals zehn Jah­re alt und das Ge­setz sah eine Ver­jäh­rungs­frist von fünf Jah­ren vor, weil eine «er­heb­li­che Wahr­schein­lich­keit» be­ste­he, «dass ein Kind der­ar­ti­ge se­xu­el­le Hand­lun­gen nach einer ge­wis­sen Zeit zu ver­ar­bei­ten ver­mö­ge». Aus­ser­dem sei die Durch­füh­rung eines Straf­ver­fah­rens nach fünf Jah­ren oder mehr wo­mög­lich ein «stär­ke­rer Ein­griff in die Per­sön­lich­keit des Op­fers als das De­likt selbst». Doch dann wur­de das Se­xu­al­straf­recht mehr­mals ver­schärft.

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Zum Zeit­punkt der An­kla­ge gilt eine Ver­jäh­rungs­frist von 15 Jah­ren, nur die letz­ten Über­grif­fe sind noch stra­frecht­lich ver­folg­bar. Die Miss­bräu­che ha­ben die Per­sön­lich­kei­ten der Op­fer mas­siv be­schä­digt, bei­na­he zer­stört, und bei­de käm­pfen auf ih­re Art da­ge­gen an. Emi­ly lei­det un­ter einer schwe­ren Bor­der­li­ne­Stö­rung, Yvon­ne un­ter Wut und De­pres­sio­nen. Die Staats­an­walt­schaft kon­zent­riert sich al­so auf die letz­ten Miss­bräu­che.

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Doch wie be­weist man Ta­ten, die sich 14 Jah­re zu­vor er­eig­net ha­ben, für die es kei­ne ob­jek­ti­ven Be­wei­se mehr gibt, über die die bei­den schwer trau­ma­ti­sier­ten Op­fer nie ge­re­det ha­ben? An die sie kei­ne zu­sam­men­hän­gen­de Er­in­ne­rung mehr auf­brin­gen kön­nen, ge­schwei­ge denn prä­zi­se An­ga­ben über Ört­lich­keit und Tat­zeit­punkt ma­chen?

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«Ich sehe ihn nackt, und fertig»

Aus dem Pro­to­koll von Emi­lys Ein­ver­nah­men: Un­ter­su­chungs­rich­te­rin: «Wenn Sie sich nicht er­in­nern kön­nen, sa­gen Sie bit­te, dass Sie sich nicht er­in­nern kön­nen. Wenn Sie sich einer Sa­che nicht si­cher sind, dann sa­gen Sie, dass Sie sich nicht si­cher sind.» Emi­ly: «Ja.» UR: «Bei der Be­fra­gung vom 26. Ap­ril 2006 ha­ben Sie er­zählt, dass es zu einem letz­ten se­xu­el­len Über­griff durch Ih­ren Va­ter auf einem Park­platz kam. Ist dies rich­tig?» E: «Ich weiss nicht mehr.» UR: «Aber an den Vor­fall kön­nen Sie sich er­in­nern?» top E: «Ja.» UR: «Bit­te schil­dern Sie, wie es da­zu kam.» E: «Ich weiss nicht mehr. Ich ha­be ein Black-out. Ich weiss nicht mehr, wie wir da­hin ka­men.» UR: «Wis­sen Sie noch, was dort ge­schah?» E: (stu­diert lan­ge) «Muss durch die Bil­der gehen … Ich weiss es nicht. Ich will nichts Fal­sches sa­gen.» UR: «Ha­ben Sie eine Er­in­ne­rung da­ran, oder kön­nen Sie sich im Mo­ment an gar nichts mehr er­in­nern?» E: «Ich ha­be ein­fach ein Bild­stück.» UR: «Kön­nen Sie das be­schrei­ben?» E: «Ich se­he ihn ein­fach nackt, und fer­tig.»

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Yvon­nes Aus­sa­gen sind kla­rer und sehr de­tail­liert. Aus dem Pro­to­koll der Ein­ver­nah­men: UR: «Kön­nen Sie mir den Kel­ler­raum noch ge­nau­er be­schrei­ben?» Y: «Beim Haus­ein­gang hat­te es einen Vor­raum. Dort geht es die Trep­pe hin­un­ter. Dort hat­te es einen Hei­zungs­raum. Ich weiss noch, wie es dort roch, aber das nützt Ih­nen wohl nichts.» UR: «Kön­nen Sie den Ge­ruch be­schrei­ben?» Y: «Es war ein eigen­ar­ti­ger Ge­ruch. Nicht ge­lüf­tet, nach Zi­ga­ret­ten, Schweiss, ein biss­chen nach Putz­mit­teln. Es war ein­fach muf­fig.»

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Im Ja­nu­ar 2008, fünf Mo­na­te nach der ers­ten An­kla­ge­er­he­bung, fällt das Be­zirks­ge­richt sein Ur­teil: Hu­ber wird in al­len An­kla­ge­punk­ten für schul­dig be­fun­den und zu einer Frei­heits­stra­fe von acht Jah­ren ver­ur­teilt. Er wird aus­ser­dem zu Scha­den­er­satz und Ge­nug­tu­ung samt Zins und Zin­ses­zins ver­ur­teilt und muss sämt­li­che Ver­fah­rens­kos­ten tra­gen. Sein An­walt legt Be­ru­fung ein, ver­langt Ent­schä­di­gung für die ihm zu­ge­mu­te­te Un­bill des Pro­zes­ses und zieht den Fall an das Kan­tons­ge­richt wei­ter.

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3. Der Prozess, der nicht enden will

Der ent­kom­me­ne Kin­der­schän­der, Teil 3: Wie der Tä­ter mit al­len Mit­teln ver­such­te, die bei­den Frau­en wie­der zu Op­fern zu ma­chen. Und wie sie am Pro­zess bei­na­he zu­grun­de gin­gen.

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Von Michèle Binswanger
Bad
Nach den Übergriffen versteckte sich Yvonne jeweils beschämt.

Foto: Luis Berg (Keystone)

Bad
Nach den Über­grif­fen ver­steck­te sich Yvon­ne je­weils be­schämt.

Foto: Luis Berg (Keystone)

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Wäh­rend der Pro­zess in die zwei­te Run­de geht, ar­bei­tet Yvon­ne¹) Voll­zeit. Sie hat einen neu­en Job in einer neu­en Stadt, die ihr ge­fällt. Mor­gens um sechs auf­ste­hen, mit Tram oder Auto zur Ar­beit, bis spät in die Nacht im Bü­ro. Da­zwi­schen gibt es Ein­ver­nah­men, Ge­gen­über­stel­lun­gen, Aus­sa­gen. Es wer­den boh­ren­de Fra­gen ge­stellt: «Wann ge­nau, an wel­chem Da­tum hat er Sie an­ge­fasst? Wie ge­nau? Letz­tes Mal ha­ben Sie ge­sagt, Sie er­in­nern sich nicht.» Emi­ly steht un­ter Psy­cho­phar­ma­ka und Be­ru­hi­gungs­mit­teln, oft bringt sie die Er­eig­nis­se durch­ein­an­der. Manch­mal er­scheint sie gar nicht vor Ge­richt. Yvon­ne gibt im­mer wie­der Ant­wort auf die­sel­ben Fra­gen: «Wa­rum ha­ben Sie sich nicht ge­wehrt? Wa­rum sind Sie wie­der da hin­ge­gan­gen? Wa­rum ha­ben Ih­re El­tern nichts ge­merkt?»

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Im Bü­ro kennt nie­mand Yvon­nes Ver­gan­gen­heit. Sie weiss in­zwi­schen, dass ih­re Ge­schich­te die Leu­te über­for­dert, wes­halb sie lie­ber schweigt. «Ich woll­te nicht, dass al­le den­ken, ich sei ein Freak.» Bei den Aus­sa­gen vor Ge­richt sitzt Hu­ber je­weils im Ne­ben­raum, ab­ge­schirmt von den Op­fern. Doch dann steht er eines Mor­gens, an einem Don­ners­tag im Früh­jahr 2008, vor dem Ein­gang ih­res Ar­beits­orts. Yvon­ne kommt vom Park­platz her. An der Tür steht er, sagt nichts, starrt nur. Sie kennt die­sen Blick, aber sie ist nicht mehr das Kind, das sie war. Sie rennt am Tä­ter vor­bei, zum Lift, auf die Toi­let­te. Dort bricht sie zu­sam­men. Zit­tert, er­bricht sich, er­lei­det Blu­tun­gen. Spä­ter holt ih­re Schwes­ter sie ab. Yvon­ne in­for­miert die Po­li­zei. Die kann nichts tun: So­lan­ge kein rechts­kräf­ti­ges Ur­teil vor­liegt, ist Hu­ber ein frei­er Mann. Und sei­ne Rechts­mit­tel schei­nen un­er­schöpf­lich.

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Am Mon­tag wählt Yvon­ne vor­sichts­hal­ber den Hin­ter­ein­gang. Von ih­rem Bü­ro­fen­ster aus sieht sie wie­der Hu­ber am Ein­gang ste­hen. Sie greift zum Te­le­fon und ruft des­sen An­walt an. Er solle Hu­ber zu­rück­pfei­fen, sagt sie. Sonst kön­ne sie für nichts ga­ran­tie­ren. Sie denkt an das Jagd­ge­wehr des Va­ters.

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Ju­ris­tisch läuft al­les kor­rekt, aber der Fall ist kom­pli­ziert, eine Ver­ur­tei­lung eher un­wahr­schein­lich, glaubt der Staats­an­walt. In ak­ri­bi­scher Klein­ar­beit wird vor Ge­richt nach der Wahr­heit ge­sucht. «Wir ha­ben einen gi­gan­ti­schen Auf­wand ge­trie­ben», sagt der Staats­an­walt heu­te. «Wä­re die pro­zess­füh­ren­de Staats­an­wäl­tin nicht so un­ge­heu­er hart­näc­kig und pflicht­be­wusst ge­we­sen, wä­re es wohl kaum zu einer Ver­ur­tei­lung ge­kom­men.» Eine der Haupt­schwie­rig­kei­ten liegt da­rin, dass sich die An­schul­di­gun­gen der bei­den Frau­en kaum ob­jek­ti­vie­ren las­sen. Emi­lys Aus­sa­gen sind teil­wei­se ver­wor­ren, ent­hal­ten Wi­der­sprü­che. Das weiss auch die Ver­tei­di­gung. «Es gab kei­ne zu­sam­men­hän­gen­de Sach­ver­halts­dar­stel­lung», sagt der Ver­tei­di­ger des Tä­ters, der die Grup­pen­ver­ge­wal­ti­gung stark an­zwei­felt. «Ich ver­mu­te, dass die bei­den Frau­en tat­säch­lich Op­fer von se­xu­el­len Über­grif­fen ge­wor­den sind, aber nicht in der be­schrie­be­nen Wei­se und nicht im un­ver­jähr­ten Be­vreich.»

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Gutachten zur Glaubwürdigkeit

Er ver­langt eine Tat­ort­be­ge­hung des Kel­lers, in dem die Grup­pen­ver­ge­wal­ti­gung statt­ge­fun­den ha­ben soll. Doch der Kel­ler wur­de in­zwi­schen um­ge­baut. Er ver­langt eine Be­fra­gung von Yvon­nes El­tern, das Ge­richt lehnt ab. Statt­des­sen lässt es ein um­fang­rei­ches Glaub­wür­dig­keits­gut­ach­ten er­stel­len, 76 Sei­ten, sehr dif­fe­ren­ziert. Die Gut­ach­ter kom­men zum Schluss, dass die Aus­sa­gen Emi­lys nur ein­ge­schränkt als Be­weis­mit­tel tau­gen, eine Fol­ge der Miss­bräu­che. Zu­sam­men mit Yvon­nes Aus­sa­gen aber sind sie ins­ge­samt glaub­wür­dig.

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2008 ist ein dunk­les Jahr für Yvon­ne. Den Pro­zess an­zu­ge­hen, war eine Ent­schei­dung mit weit­rei­chen­den Fol­gen. Nach dem Vor­fall mit dem Tä­ter wird sie schwer sui­zi­dal, kün­digt die Ar­beits­stel­le. Im Vor­feld der Ge­richts­ver­hand­lung hat sie einen Brief an ih­re El­tern und die Schwes­tern ge­schrie­ben, sie auf­ge­klärt, was ihr als Kind ge­sche­hen ist. Der Brief wirkt auf die Fa­mi­lie wie ein Erd­be­ben. Die Ehe der El­tern wird er­schüt­tert, je­der macht dem an­de­ren Vor­wür­fe²). Wa­rum hat die Mut­ter nicht auf­ge­passt? Wa­rum hat der Va­ter sich nicht ge­küm­mert? Wur­de im Dorf nicht über den Tä­ter ge­mun­kelt? Welt­bil­der bre­chen zu­sam­men. Nicht im­mer sind die Din­ge so, wie sie schei­nen. Wa­rum nur hat­te nie­mand et­was ge­merkt?

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Nach den Über­grif­fen ver­steck­te Yvon­ne sich je­weils zu­tiefst ver­schreckt in der Hun­de­hüt­te, be­schämt und ver­ängs­tigt. Bis man ihr nichts mehr an­merk­te. Nie­mand durf­te et­was wis­sen, das wä­re die Ka­ta­stro­phe. Sie war­te­te dar­auf, bis al­les wie­der nor­mal wur­de. Und ir­gend­wann ging sie wie­der spie­len zu Emi­ly. Bis der Tä­ter wie­der die­sen ko­mi­schen Blick be­kam. «So ab­ar­tig es tönt, ir­gend­wann stellt sich ein Ge­fühl von Nor­ma­li­tät ein», er­klärt sie heu­te.

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Im No­vem­ber 2008 nimmt das Schwei­zer Stimm­volk eine Ini­tia­ti­ve an, wel­che die Un­ver­jähr­bar­keit von Se­xu­al­straf­ta­ten an Kin­dern vor­sieht. Der Ent­scheid ist knapp. Aber die Ein­sicht, dass Miss­brauchs­op­fer oft Jah­re brau­chen, bis sie über die Ta­ten re­den oder über­haupt in Be­tracht zie­hen, ju­ris­tisch ge­gen die Tä­ter vor­zu­ge­hen, setzt sich durch. An Yvon­nes Pro­zess zei­gen sich aber auch die Schwie­rig­kei­ten in der Um­set­zung, der Be­weis­füh­rung.

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22 Mo­na­te nach der An­kla­ge­er­he­bung fällt das Kan­tons­ge­richt im Ju­ni 2009 sein Ur­teil: schul­dig. Im Un­ter­schied zum Kreis­ge­richt an­er­kennt das Kan­tons­ge­richt aber nur drei Fäl­le von Ver­ge­wal­ti­gung. Auch das Straf­mass fällt ge­rin­ger aus. Im Ur­teil heisst es zur Be­grün­dung: «Die An­kla­ge­be­hör­de hat es ins­be­son­de­re un­ter­las­sen, ge­ra­de die schwers­ten Vor­wür­fe durch ge­ziel­tes Be­fra­gen der Op­fer und Ab­klä­run­gen bei Be­hör­den und Äm­tern ver­läss­lich zeit­lich fest­zu­le­gen. Da­durch konn­ten meh­re­re, im Grund­satz als hi­sto­ri­sche Er­eig­nis­se nach­ge­wie­se­ne Tat­hand­lun­gen, dar­un­ter zwei Ver­ge­wal­ti­gun­gen, nicht mehr zwei­fels­frei den noch nicht ver­jähr­ten Zei­tab­schnit­ten zu­ge­ord­net wer­den, wes­halb in die­sen Fäl­len nach den straf­pro­ze­ssua­len Be­weis­re­geln kein Schuld­spruch er­fol­gen durf­te.»

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Das Recht auf Vergessen

Trotz­dem hält das Ge­richt das schwe­re Ver­schul­den Hu­bers fest. Ein­zig die Bei­na­he-Ver­jäh­rung wirkt straf­mil­dernd. Das sagt der Staats­an­walt auch heu­te noch: «Das Ge­richt hat sich an der Ma­xi­mal­stra­fe orien­tiert, das ist für un­se­ren Rechts­staat eine sehr har­te Stra­fe, so kurz vor der Ver­jäh­rung. Im­mer­hin ha­ben wir den Grund­satz eines Rechts auf Ver­ges­sen.»

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Ein Recht auf Ver­ges­sen hät­ten auch die Op­fer gern. Doch kein Rechts­staat kann ih­nen zu­rück­ge­ben, was sie ver­lo­ren ha­ben. Oder sie zu­min­dest vor den Er­in­ne­run­gen be­wah­ren. Noch kön­nen die Frau­en nicht ab­schlies­sen, noch im­mer sind die Rechts­mit­tel nicht aus­ge­schöpft. Hu­ber geht vor Bun­des­ge­richt. Zwei­ein­halb Jah­re nach der An­kla­ge­er­he­bung heisst das Bun­des­ge­richt im März 2010 die Be­schwer­de ge­gen das zwei­te Ur­teil teil­wei­se gut. Das Kan­tons­ge­richt muss den Fall er­neut be­ar­bei­ten.

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Wie­der ver­geht ein Jahr. Im Ju­li 2011 be­stä­tigt das Kan­tons­ge­richt sein frü­he­res Ur­teil, spricht den Tä­ter schul­dig, ver­ur­teilt ihn zu einer Frei­heits­stra­fe von sechs Jah­ren, ver­pflich­tet ihn zu Scha­de­ner­satz- und Ge­nug­tu­ungs­zah­lun­gen und zur Über­nah­me der Pro­zess­kos­ten. Auch ge­gen die­ses Ur­teil legt der An­ge­klag­te Be­schwer­de ein.

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¹) Alle Na­men ge­än­dert.
²) "Je­der macht dem an­de­ren Vor­wür­fe: Wa­rum hat die Mut­ter nicht auf­ge­passt? Wa­rum hat sich der Va­ter nicht ge­küm­mert?".
 
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4. Dann ver­schwand der Kin­der­schän­der

Nach sechs Jah­ren Pro­zess er­hal­ten die Op­fer des Ver­ge­wal­ti­gers end­lich recht, der Mann wird ver­ur­teilt. Im Ge­fäng­nis sitzt er bis heu­te nicht. Wie konn­te das pas­sie­ren?

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Von Michèle Binswanger
Bad
Für das Op­fer war der lan­ge Pro­zess um­sonst, «eine to­ta­le Null­run­de».

Foto: Keystone

Novem­ber 2012. top Fast zwan­zig Jah­re sind ver­gan­gen, seit Yvon­ne³) schwer miss­braucht wur­de. Die­se Jah­re sind aus­ge­löscht, wenn die Pa­nik­at­tac­ken kom­men, die Er­stic­kungs­an­fäl­le und Blu­tun­gen. Zwar ist der Miss­brauch vor­bei, der Pro­zess, die Be­fra­gun­gen. Doch zu En­de ist es für Yvon­ne noch nicht.

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Nach sechs Jah­ren sind al­le Be­schwer­den ab­ge­wie­sen, auch ein Ge­such um Haft­auf­schub, wo­ge­gen der Tä­ter noch­mals Re­kurs ein­legt, dem wie­der­um nicht nach­ge­kom­men wird. Mit dem letz­ten Ver­dikt im Feb­ru­ar 2012 liegt end­lich ein rechts­kräf­ti­ges Ur­teil vor. Der Tä­ter wird zu einer Frei­heits­stra­fe von sechs Jah­ren ver­ur­teilt, Hu­ber muss ins Ge­fäng­nis. Yvon­ne be­ginnt, sich mit der Geld­fra­ge aus­ein­an­der­zu­set­zen. Rund 100'000 Fran­ken Ge­nug­tu­ung und Ent­schä­di­gung ste­hen ihr zu. top Von Hu­ber, we­gen sei­ner Adi­po­si­tas voll­in­va­lid, ist kein Geld zu er­war­ten. Für sol­che Fäl­le ge­be es die Op­fer­hil­fe, sag­te man ihr wäh­rend des Pro­zes­ses. Noch im Ja­nu­ar hat­te sich Yvon­nes An­wäl­tin er­kun­digt, wie sie ihr Geld denn an­zu­le­gen ge­den­ke. Und Yvon­ne hat­te sich in­for­miert. Viel­leicht die Aus­bil­dungs­schul­den ab­tra­gen. Oder aus­ge­dehn­te Fe­ri­en auf einer In­sel ma­chen.

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Der verheerende Bescheid

Als das rechts­kräf­ti­ge Ur­teil vor­liegt, gibt es Prob­le­me. Laut al­tem Op­fer­hil­fe­ge­setz hät­te Yvon­ne näm­lich bis spä­tes­tens zwei Jah­re nach dem letz­ten Über­griff ein Ge­such um Ent­schä­di­gungs- und Ge­nug­tu­ungs­zah­lun­gen stel­len müs­sen. Al­so mit zwölf Jah­ren. Yvon­ne nimmt sich eine neue An­wäl­tin. Sie soll prü­fen, ob man doch noch einen An­spruch gel­tend ma­chen kann. Wo Hu­ber denn sei­ne Stra­fe ab­sit­ze, fragt die An­wäl­tin. Das weiss Yvon­ne nicht. Sie be­ginnt her­um­zu­te­le­fo­nie­ren. Sie fragt das Ge­richt. Dort heisst es, man kön­ne nichts sa­gen, sie sol­le sich bei der Op­fer­hil­fe er­kun­di­gen. Die Op­fer­hil­fe sagt, sie solle das in der The­ra­pie klä­ren. «Ich will bloss wis­sen, wo der Tä­ter ein­sitzt. Ich will nicht, dass mir je­mand sagt, ich sol­le mich ent­span­nen», sagt sie. Schliess­lich der Be­scheid des Amts für Jus­tiz­voll­zug: Der Ver­ur­teil­te ist weg.

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Im Nor­mal­fall, so teilt das zu­stän­di­ge Amt mit, schickt die Jus­tiz­voll­zugs­be­hör­de dem Ver­ur­teil­ten einen Voll­zugs­be­fehl zum An­tritt der Stra­fe in­nert drei­er Mo­na­te. Hu­ber soll­te im Mai ins Ge­fäng­nis. «Im Ver­fah­ren um einen mög­li­chen Straf­auf­schub er­fuh­ren wir, dass der Tä­ter sich be­reits seit En­de 2011 im Aus­land auf­hält», sagt das Amt für Jus­tiz­voll­zug. Vom Pflicht­ver­tei­di­ger ist zu er­fah­ren, dass Hu­ber sich or­dent­lich im Aus­land an­ge­mel­det hat. Ob er nach wie vor sei­ne In­va­li­den­ren­te be­zieht, weiss nie­mand. Das Amt für So­zial­ver­si­che­rung gibt kei­ne Aus­kunft. Das Amt für Jus­tiz­voll­zug sagt, in einem sol­chen Fall müss­te die Ren­te si­stiert wor­den sein. Al­ler­dings ha­be man bis­lang nichts von der Ren­te ge­wusst, al­so auch nie­man­den in­for­miert. Wird nach dem Tä­ter ge­fahn­det? «Zu­stän­dig für die Ein­lei­tung sol­cher Mass­nah­men sind wir als Voll­zugs­be­hör­de. Wir sind in sol­chen Fäl­len aber auf die Un­ter­stüt­zung der aus­län­di­schen Be­hör­den an­ge­wie­sen und ha­ben auf de­ren Ar­beit kei­nen Ein­fluss», heisst es.

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«Das Geld», sagt Yvon­ne, «wä­re mir egal. Das Wich­tig­ste war mir, dass er weg­kommt. Doch die sechs Jah­re Pro­zess wa­ren eine to­ta­le Null­run­de.» Der Staats­an­walt wi­der­spricht ve­he­ment. «Eine Tra­gö­die wä­re es ge­we­sen, wenn es zum Frei­spruch ge­kom­men wä­re. Dass der Tä­ter so kurz vor der Ver­jäh­rung im Rah­men der Ge­samt­um­stän­de so hart ver­ur­teilt wur­de, ist als Er­folg un­se­res Rechts­staa­tes zu wer­ten.» Im Pro­zess, so der Staats­an­walt, spiegelt sich aber auch der Zeit­geist. Heu­te wird die se­xu­el­le Selbst­be­stim­mung als höch­stes Gut ge­wer­tet. Aber bei sol­chen Se­xu­al­de­lik­ten steht am En­de Aus­sa­ge ge­gen Aus­sa­ge. Nur In­di­zi­en­ket­ten füh­ren zur Wahr­heit.

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Kampf gegen die Opferfalle

Zwei­fel blei­ben. Sechs Jah­re hat der Staat pro­zes­siert, un­ter ge­wal­ti­gem Auf­wand. Und am En­de steht er mit lee­ren Hän­den da. Wä­re es an­ge­zeigt ge­we­sen, den Tä­ter in Si­cher­heits­haft zu neh­men? Zu­stän­dig da­für wä­re das Ge­richt, das aber je­de Ver­ant­wor­tung von sich weist: Man ha­be zum Zeit­punkt des zwei­ten Ur­teils­spruchs kei­nen Grund für eine Haft­an­ord­nung, kei­ne Flucht­ge­fahr zu er­ken­nen ver­mocht. Der Ver­ur­teil­te sei zu je­der Ver­hand­lung er­schie­nen. Dass der Tä­ter in vier­ter Ehe mit einer Thai­län­de­rin ver­hei­ra­tet ist, gilt nicht als Ver­dachts­mo­ment. Dass ein Mann aus Thai­land un­ter dem Na­men des Ver­ur­teil­ten Le­ser­kom­men­ta­re auf Schwei­zer On­li­ne­por­ta­len hin­ter­lässt, fällt nie­man­dem auf. Nur Yvon­ne. Aber an wen soll sie sich mit die­sen In­for­ma­tio­nen wen­den?

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Yvon­ne kämpft wei­ter. «Ich könn­te eben­falls eine In­va­li­den­ren­te be­zie­hen, aber wer will das mit 29 Jah­ren? Al­so ar­bei­te ich. Und dann wer­de ich von al­len wie­der zum Op­fer ge­macht.» Manch­mal fra­ge sie sich: Ist das wirk­lich al­les ge­sche­hen? Dann kom­men die Er­in­ne­run­gen, und sie weiss al­les wie­der. Manch­mal wünscht sie sich, dass al­les dun­kel wird. Aber dann kehrt die Wut zu­rück, und Yvon­ne greift zum Te­le­fon. Es kann schliess­lich nicht sein, dass so einer ein­fach da­von­kommt. Oder doch?

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³) Die Namen des Opfers und des Täters wurden aus Gründen des Opferschutzes geändert.
 
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Vergewaltiger lebt in Thailand von der IV

( TA )
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Eigent­lich soll­te der Mann, der sei­ne min­der­jäh­ri­ge Toch­ter und de­ren Freun­din jah­re­lang se­xu­ell miss­han­del­te, im Ge­fäng­nis sit­zen. Er wur­de zu sechs Jah­ren Frei­heits­stra­fe ver­ur­teilt (TA von ge­stern). Statt­des­sen lebt er bis­lang un­be­hel­ligt in Thai­land, und die Schwei­zer In­va­li­den­ver­si­che­rung über­weist ihm we­gen sein­er Fett­lei­big­keit auch noch eine Ren­te. Dass der Kin­der­schän­der sich ab­set­zen konn­te, er­klä­ren die Be­hör­den mit wech­seln­den Zu­stän­dig­kei­ten und man­geln­der Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Äm­tern. Sechs Mo­na­te lang war schlicht nie­mand für die Voll­strec­kung des Ur­teils zu­stän­dig.

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Kin­der­schän­der be­zieht in Thai­land eine IV-Ren­te

Man­geln­de Ab­spra­chen der Äm­ter er­laub­ten es dem Tä­ter, sich ab­zu­set­zen. Er lebt auf Staats­kos­ten.

Von Michèle Binswanger
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Der ent­flo­he­ne Kin­der­schän­der im Miss­brauchs­fall, den der «Tages-Anzeiger» öf­fent­lich ge­macht hat, be­zieht we­gen sei­ner Fett­lei­big­keit noch im­mer eine In­va­li­den­ren­te. Dies be­rich­te­te «Schweiz ak­tu­ell». Der Ren­ten­an­spruch be­steht so lan­ge, bis ein ver­ur­teil­ter Straf­tä­ter sei­ne Haft an­tritt, wie ein im August gefäll­ter Grund­satz­ent­scheid des Bun­des­ge­richts be­sagt. Es sei nicht Auf­ga­be der IV-Stel­le, einen An­reiz zum recht­zei­ti­gen Straf­voll­zug zu schaf­fen, schrieb das Ge­richt. Da­mit wer­den Ren­ten auch ins Aus­land über­wie­sen — selbst dann, wenn sich ein Tä­ter durch die Flucht nach Thai­land dem Straf­voll­zug ent­zieht und dann sei­ne In­va­li­di­tät als Grund da­für gel­tend macht, dass er die Stra­fe nicht an­tre­ten kön­ne, wie im vor­lie­gen­den Fall.

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Dass Hu­ber4) über­haupt flie­hen konn­te, hat laut dem St. Gal­ler Ge­richts­prä­si­den­ten Lu­zi­us Eug­ster mit ver­schie­de­nen Fak­to­ren zu tun: wech­seln­de Zu­stän­dig­kei­ten, man­geln­de Kom­mu­ni­ka­ti­on und eine Lüc­ke im Sys­tem. Zu­nächst be­ur­teilt die Staats­an­walt­schaft, ob eine an­ge­klag­te Per­son vor­sorg­lich ver­haf­tet wer­den soll. Für eine Si­cher­heits­haft brau­che es kon­kre­te Hin­wei­se auf Ver­dun­ke­lungs-, Fort­set­zungs- oder Flucht­ge­fahr. Die Staats­an­walt­schaft St. Gal­len er­kann­te bei Hu­ber kei­nen Haft­grund. Der lei­ten­de Staats­an­walt Tho­mas Wel­tert be­grün­de­te das da­mit, dass die Über­grif­fe lan­ge zu­rück­la­gen und Hu­ber sich seit­her, zu­min­dest punk­to Kinds­miss­brauch, nichts mehr hat­te zu­schul­den kom­men las­sen. Dass Hu­ber zum Zeit­punkt des Un­ter­suchungs­ver­fah­rens kei­ner­lei An­stal­ten mach­te, sich dem Pro­zess zu ent­zie­hen, mach­te ihn für die Be­hör­den noch un­ver­däch­ti­ger. Zu­dem sei der Aus­gang des mehr­jäh­ri­gen Ver­fah­rens, so Wel­tert, von Be­ginn weg höchst un­ge­wiss ge­we­sen. Hät­te man Hu­ber in Haft ge­nom­men und er wä­re frei­ge­spro­chen wor­den, wä­re der Staat zu Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen ver­pflich­tet ge­we­sen.

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Warnungen kamen nicht an

Im Ja­nu­ar 2011 wur­de die Straf­pro­zess­ord­nung ge­än­dert, für die An­ord­nung einer all­fäl­li­gen Si­cher­heits­haft war neu das Kan­tons­ge­richt St. Gal­len zu­stän­dig. Das Ge­richt be­ur­teil­te den Fall aber nicht neu, son­dern ver­liess sich auf das Ur­teil der Staats­an­walt­schaft. Das Miss­brauchs­op­fer Yvon­ne4) hat­te zwar ge­warnt und auch be­rich­tet, dass der Tä­ter sie be­droht hat­te. Dies er­reich­te die zu­stän­di­gen Stel­len nicht. Weil kei­ne An­halts­punk­te für Fort­set­zungs- oder Flucht­ge­fahr auf­ge­taucht wa­ren, ha­be man kei­nen An­lass ge­habt, den Fall neu zu be­ur­tei­len.

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Im Sep­tem­ber 2011 lag ein rechts­kräf­ti­ges Ur­teil ge­gen Hu­ber vor. Da­mit ging die Zu­stän­dig­keit vom Ge­richt ans Amt für Jus­tiz­voll­zug über. Doch die­ses war bloc­kiert, weil Hu­ber ein wei­te­res Mal Be­ru­fung ein­leg­te. Da­mit war das Ur­teil bis zum En­de des Ver­fah­rens nicht voll­streck­bar. Sechs Mo­na­te lang war schlicht nie­mand zu­stän­dig für die Voll­strec­kung. Hier hand­le es sich, so Lu­zi­us Eug­ster, um eine Lüc­ke im Sys­tem der Zu­stän­dig­kei­ten, für das eine Lö­sung ge­fun­den wer­den müs­se. Eine Lüc­ke, die Hu­ber nutz­te, um sich ins Aus­land ab­zu­set­zen.

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Ein riesiger Papierkrieg

“«Auch wenn er ein Bein am­put­iert hat, heisst das nicht, dass er nicht in den Straf­voll­zug kann.» Joe Keel, Amt für Jus­tiz­voll­zug St. Gallen.”

“«Auch wenn er ein Bein am­put­iert hat, heisst das nicht, dass er nicht in den Straf­voll­zug kann.» Joe Keel, Amt für Jus­tiz­voll­zug St. Gallen.”

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Doch wes­halb kann sich der Tä­ter of­fi­zi­ell in Thai­land auf­hal­ten, oh­ne von der Schwei­zer Jus­tiz be­langt zu wer­den? Zu­stän­dig für ein all­fäl­li­ges Aus­lie­fe­rungs­ver­fah­ren ist das Amt für Jus­tiz­voll­zug St. Gal­len. Joe Keel, der zu­stän­di­ge Lei­ter der Be­hör­de, sag­te auf An­fra­ge: «Auch wenn ein Aus­lie­fe­rungs­ge­such ge­stellt ist, ob­liegt es den lo­ka­len Be­hör­den vor Ort, den Tä­ter in Haft zu neh­men.» Über das Bun­des­amt für Jus­tiz müs­sen zahl­rei­che Un­ter­la­gen ein­ge­reicht wer­den, die­se müs­sen über­setzt und in Thai­land den ent­spre­chen­den Be­hör­den wei­ter­ge­lei­tet wer­den, wel­che die­se dann be­ur­tei­len. «Das dau­ert sei­ne Zeit, be­son­ders bei einem Land, mit dem kein top Aus­lie­fe­rungs­ver­trag be­steht.» Für lo­ka­le Ver­hält­nis­se lau­fe das Ver­fah­ren nach den bis­he­ri­gen Rück­mel­dun­gen aber ge­ord­net und so­gar schnell. Laut Re­cher­chen des «Ta­ges-An­zei­gers» soll Hu­ber Arzt­zeug­nis­se einer in­ter­na­tio­na­len Kli­nik in Thai­land ein­ge­holt ha­ben, die ihm eine Rei­se- und Haft­er­ste­hungs­un­fä­hig­keit at­te­stie­ren. «Das in­ter­es­siert uns nicht», sagt Joe Keel da­zu. «Auch wenn er ein Bein am­pu­tiert hat, heisst das noch nicht, dass er nicht in den Straf­voll­zug kann — oder trans­port­un­fä­hig ist.»

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Alle zu­stän­di­gen Be­hör­den — Staats­an­walt­schaft, Ge­richt und Jus­tiz­voll­zug — be­to­nen, dass das Ver­fah­ren prio­ri­tär be­han­delt wer­de, und ge­ben sich be­züg­lich eines bal­di­gen Ab­schlus­ses zu­ver­sicht­lich. Könn­te es sein, dass die thai­län­di­schen Be­hör­den fürch­ten, dass der ge­sund­heit­lich an­ge­schla­ge­ne Tä­ter eine Aus­lie­fe­rungs­haft nicht über­le­ben wür­de? «Thai­land hat kein In­ter­es­se da­ran, einen Tä­ter ge­ra­de aus die­sem Be­reich zu schüt­zen», sagt Keel.

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4) Die Namen des Opfers und des Täters wurden aus Gründen des Opferschutzes geändert.
 
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Bundesrat will flüchtigen Straftätern keine IV-Renten mehr auszahlen

Von Iwan Städler
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Der Miss­brauchs­fall, den der TA vor Weih­nach­ten in einer Ar­tikel­se­rie pub­lik ge­macht hat, sorgt gleich mehr­fach für Em­pö­rung. Ers­tens we­gen der Tat an sich: Da ver­ge­wal­tigt ein Mann seine Toch­ter und de­ren Freun­din ab dem Kin­der­gar­ten­al­ter wäh­rend Jah­ren. Zwei­tens we­gen der Flucht des Tä­ters: Er ist nach Thai­land aus­ge­wan­dert und ent­zieht sich dort der Haft. Drit­tens we­gen der In­va­li­den­ver­siche­rung (IV): Sie über­weist dem Flüch­ti­gen, der we­gen einer Stoff­wech­sel­krank­heit stark über­ge­wich­tig ist, wei­ter­hin eine Ren­te — weil das Bun­des­ge­richt sie da­zu zwingt.

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Im August die­ses Jah­res hat das ober­ste Schwei­zer Ge­richt in einem an­de­ren Fall ein ent­spre­chen­des Ur­teil er­las­sen. Es ging um einen ge­werbs­mäs­si­gen Be­trü­ger, der eben­falls Thai­land dem Ge­fäng­nis vor­zog. Ihm strich die IV die Ren­te, wo­rauf er sich be­schwer­te und am En­de vor Bun­des­ge­richt ge­wann. Wer sich der Haft ent­zie­he, be­fin­de sich noch nicht im Straf­voll­zug und ha­be da­durch wei­ter­hin An­recht auf eine Ren­te, be­fan­den die Rich­ter. So wolle es das Ge­setz.

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Die Gesetz­ge­ber selbst se­hen dies of­fen­bar an­ders und wol­len nun das Ge­setz än­dern, um ih­ren Wil­len klar zum Aus­druck zu brin­gen: kei­ne Ren­ten für Jus­tiz­flüch­ti­ge. Nur drei Ta­ge nach Pub­li­ka­ti­on des Bun­des­ge­richts­ur­teils hat der Lu­zer­ner CVP-Na­tio­nal­rat Rue­di Lus­ten­ber­ger eine ent­spre­chen­de Mo­ti­on ein­ge­reicht, die der Bun­de­srat um­ge­hend be­han­delt und zur An­nah­me em­pfoh­len hat. Wer sich dem Straf­voll­zug ent­zie­he, dür­fe nicht bes­ser­ge­stellt wer­den, als wer sich ihm ver­wei­ge­re, ar­gu­men­tiert die Lan­des­re­gie­rung.

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Der Natio­nal­rat hat den Vor­stoss be­reits dis­kus­si­ons­los über­wie­sen. Auch der Stän­de­rat wer­de fol­gen, sagt die Frei­sin­ni­ge Chri­sti­ne Egers­ze­gi, wel­che die stän­de­rät­li­che So­zi­al­kom­mis­si­on prä­si­diert. Die ge­gen­wär­ti­ge Rechts­la­ge, die durch das Bun­des­ge­richts­ur­teil ent­stan­den sei, wi­der­spre­che dem Rechts­em­pfin­den.

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Flucht nach Thai­land zahlt sich für ver­ur­teil­te IV-Rent­ner aus

Ein Bun­des­ge­richts­ur­teil hält fest: Wer statt ins Ge­fäng­nis ins Aus­land geht, be­hält sein Recht auf eine IV-Ren­te. Po­li­ti­ker wol­len dies kor­ri­gie­ren.

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Von Iwan Städler
Thailand
Mit einer IV-Ren­te lässt sich in Thai­land gut le­ben.

Foto: Vincent Yu (AP, Keystone)

Thailand
Mit einer IV-Ren­te lässt sich in Thai­land gut le­ben.

Foto: Vincent Yu (AP, Keystone)

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Meh­re­re Jah­re lang hat ein Mann im Sar­gan­ser­land sei­ne Toch­ter und de­ren Freun­din im­mer wie­der ver­ge­wal­tigt. Es be­gann, als die bei­den Mäd­chen noch im Kin­der­gar­ten­al­ter wa­ren. Und es en­de­te erst, als sie zehn­jäh­rig wa­ren. Da­für hat das Kan­tons­ge­richt St. Gal­len den Mann 2011 zu einer Frei­heits­stra­fe von sechs Jah­ren ver­ur­teilt — we­gen mehr­fa­cher Ver­ge­wal­ti­gung, Nö­ti­gung, In­zests und se­xu­el­ler Hand­lun­gen mit Kin­dern (TA vom 18. bis 22. De­zem­ber).

Thailand
Ruedi Lustenberger
Der 62-jäh­ri­ge CVP-Po­li­ti­ker ist Vi­ze­prä­si­dent des Na­tio­nal­rats und will ver­ur­teil­te IV-Rent­ner für ih­re Flucht nicht mehr be­loh­nen.
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Seine Haft hat der Kin­der­schän­der al­ler­dings nie an­ge­tre­ten. Statt­des­sen zog er im Sep­tem­ber 2011 mit sei­ner thai­län­di­schen Ehe­frau in de­ren Hei­mat. Dort liess sich der schwer Über­ge­wich­ti­ge für trans­port­un­fä­hig er­klä­ren. Die Schweiz ver­sucht nun, ihn mit einem Aus­lie­fe­rungs­ge­such doch noch sei­ner Haft­stra­fe zu­zu­füh­ren. Gleich­zei­tig über­weist sie ihm aber wei­ter­hin eine IV-Ren­te — we­gen einer Stoff­wech­sel­krank­heit, die sei­ne Fett­lei­big­keit be­wirkt.

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Der­sel­be Staat, den der Mann mit sei­ner Flucht aus­ge­trickst hat, schickt ihm al­so re­gel­mäs­sig Geld. Nicht et­wa, weil die Lin­ke nicht wüss­te, was die Rech­te tut. Son­dern weil es das Bun­des­ge­richt so will. Der Kin­der­schän­der pro­fi­tiert von einem Grund­satz­ent­scheid, den das Ge­richt in einem an­de­ren Fall die­sen August fäll­te. Da­nach ha­ben ver­ur­teil­te IV-Rent­ner, die ins Aus­land flie­hen, wei­ter­hin An­spruch auf eine Ren­te.

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«Das kann doch nicht sein»

Kon­kret ging es um einen ge­werbs­mäs­si­gen Be­trü­ger, der un­ter an­de­rem auf der In­ter­net­platt­form Ri­car­do Gut­schei­ne von Mig­ros und Coop ver­stei­gert hat­te, die er gar nicht be­sass. Ins­ge­samt er­leich­ter­te er sei­ne Op­fer um rund 1,5 Mil­lio­nen Fran­ken. Da­für ver­ur­teil­te ihn das Bas­ler Straf­ge­richt zu einer Frei­heits­stra­fe von drei­ein­halb Jah­ren. Doch auch er wan­der­te lie­ber nach Thai­land aus, als ins Ge­fäng­nis zu ge­hen.

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Als dies die In­va­li­den­ver­si­che­rung 2010 ver­nahm, strich sie dem Be­trü­ger die Ren­te. Sie be­rief sich da­bei auf einen Ge­set­zes­ar­ti­kel, wo­nach die Ren­ten aus­ge­setzt wer­den kön­nen, wenn sich ein Be­zü­ger «im Straf- oder Mass­nah­men­voll­zug» be­fin­det. Da­mit will man ver­hin­dern, dass ein be­hin­der­ter Häft­ling bes­ser­ge­stellt wird als ein ge­sun­der In­sas­se, der im Ge­fäng­nis kein Er­werbs­ein­kom­men hat.

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Keine IV-Ren­te er­hal­ten auch Aus­bre­cher. Dies hat das Bun­des­ge­richt 2008 im Fall eines Ko­so­va­ren ent­schie­den, der sich wäh­rend eines Haft­ur­laubs in sei­ne Hei­mat ab­setz­te und von dort aus auf sei­ne Schwei­zer IV-Ren­te poch­te. «Es wä­re stos­send und stün­de im Wi­der­spruch zum all­ge­mei­nen Ge­rech­tig­keits­ge­dan­ken, wenn je­mand aus einer rechts­wid­ri­gen Hand­lung Nut­zen zie­hen könn­te», be­fand da­mals das Ge­richt.

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Auf die­ses Ur­teil stütz­te sich auch das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt im Fall des Bas­ler Be­trü­gers, der sei­ne Haft gar nicht erst an­ge­tre­ten hat­te. Die­ser hat­te ge­gen den Ent­scheid der IV, ihm kei­ne Ren­te mehr aus­zu­rich­ten, Be­schwer­de ein­ge­legt. Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt lehn­te die­se ab. An­ders das Bun­des­ge­richt: Sei­ner An­sicht nach be­fin­det sich eine ver­ur­teil­te Per­son recht­lich noch nicht im Straf­voll­zug. Es be­ste­he da­her kei­ne ge­setz­li­che Grund­la­ge, um die Ren­te zu ver­wei­gern.

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Wört­lich schrei­ben die drei Rich­ter und zwei Rich­te­rin­nen: «Die IV-Stel­le soll kei­nen Nut­zen aus dem ver­spä­te­ten Straf­an­tritt zie­hen kön­nen.» Und: «Es ist nicht Auf­ga­be der IV-Stel­le, durch einen frü­hen Si­stie­rungs­be­ginn einen An­reiz zum recht­zei­ti­gen Straf­voll­zug zu schaf­fen.»

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CVP-Natio­nal­rat Rue­di Lus­ten­ber­ger hü­tet sich, das Bun­des­ge­richt zu kri­ti­sie­ren. Aber er sagt: «Die Rich­ter ha­ben sehr for­mal­recht­lich ent­schie­den.» Als er vom Ur­teil ge­le­sen ha­be, ha­be er ge­dacht, «das kann doch nicht sein» — und kurz da­rauf eine Mo­ti­on ein­ge­reicht. Sie ver­langt vom Bun­des­rat eine Ge­set­zes­re­vi­si­on, «da­mit sich für einen ver­ur­teil­ten Em­pfän­ger von Lei­stun­gen aus den So­zi­al­ver­si­che­run­gen die Flucht ins Aus­land nicht mehr lohnt».

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Lus­ten­ber­ger rann­te da­mit bei der Lan­des­re­gie­rung of­fe­ne Tü­ren ein. Sie fin­det die ge­gen­wär­ti­ge Rechts­la­ge eben­falls «stos­send», auch wenn es «nur re­la­tiv sel­ten» zu sol­chen Fäl­len kom­me. Sie em­pfiehlt da­her, die Mo­ti­on an­zu­neh­men, was der Na­tio­nal­rat am letz­ten Ses­si­ons­tag die­ses Jah­res be­reits ge­tan hat.

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Gesetz rasch korrigieren

Nun ist die So­zi­al­kom­mis­si­on des Stän­de­rats an der Rei­he. De­ren Prä­si­den­tin, Chri­sti­ne Egers­ze­gi, ist über­zeugt, dass auch die klei­ne Kam­mer eine An­pas­sung des Ge­set­zes gut­heis­sen wird. «Es geht nicht an, dass ge­wis­ser­mas­sen be­lohnt wird, wer sei­ne Stra­fe nicht an­tritt», fin­det die frei­sin­ni­ge Aar­gaue­rin. Über­dies stell­ten sol­che Fäl­le die IV in ein schlech­tes Licht.

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Egers­ze­gi er­wägt, Lus­ten­ber­gers Vor­stoss prio­ri­tär zu be­han­deln, um das Tem­po von Na­tio­nal- und Bun­des­rat hal­ten zu kön­nen. Die Lan­des­re­gie­rung brau­che aber nicht die Mo­ti­on ab­zu­war­ten, son­dern kön­ne auch von sich aus tä­tig wer­den. Das Bun­des­amt für So­zi­al­ver­si­che­run­gen klärt nun ab, ob es die Ge­set­zes­an­pas­sung an eine an­de­re Re­vi­si­on an­hän­gen oder eine eige­ne Mi­ni­re­vi­si­on vor­schla­gen will. Gin­ge es nach Lus­ten­ber­ger, soll­ten die Fol­gen des Bun­des­ge­richts­ur­teils An­fang 2014 kor­ri­giert sein.

Urteil 8C_289/2012 vom 30.8.2012