Der «Tages-Anzeiger» berichtet in einer vierteiligen Serie von einem schockierenden Fall von Kindesmissbrauch. Der Täter, rechtskräftig verurteilt, konnte sich vor Strafantritt ins Ausland absetzen.
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Ohnmächtige Opfer, eine ohnmächtige Justiz, eine zerstörte Kindheit. Foto: Keystone |
Ohnmächtige Opfer, eine ohnmächtige Justiz,
eine zerstörte Kindheit.
Foto: Keystone
Er nannte sie «meine beiden Schlämpli». Sie waren Kindergartenkinder, als es begann, und es hörte auf, als sie zehn Jahre alt waren. Weitere vierzehn Jahre dauerte es, bis die beiden Frauen, Emily und Yvonne, beste Freundinnen, eine Sprache fanden für das Leid, das Huber ihnen angetan hatte.
Er vergewaltigte sie zu Hause im Büro und im Auto. Er führte ihnen Gegenstände ein, Barbiepuppen, Kugelschreiber, Kreiden. Manchmal steckte er ihnen einen Revolver in den Mund. Nahm sie hinters Haus, gab ihnen bunte Plastikschaufeln — solche, mit denen normale Kinder den Sandkasten umgraben — befahl, zwei Gräber zu schaufeln, zeigte ihnen Fotos verkohlter Leichen. Emily, seine Tochter, kannte das schon. Yvonne fürchtete sich zu Tode. So werde er die Mutter, die Schwester, den Hund umbringen, wenn Yvonne ihrem Vater etwas sage. Manchmal nahm Yvonne Watte mit oder ein frisches Unterhöschen, damit zu Hause niemand etwas merkte. Denn das durfte niemand wissen. Was würden die Eltern denken, dass sie so eine ist? Das hatte er ihr eingeschärft. Ohnehin redete man bei Yvonne zu Hause nicht über solche Sachen.
An ihrer Tür steht nur ein Vorname, kein Nachname. Sie will nicht, dass er sie findet.
Heute ist Yvonne 29 Jahre alt, Webdesignerin mit Auszeichnung. Wenn sie erzählt, zupft sie an ihren Kleidern, der Körper voller Spannung. Oft blickt sie weg, in die Ecke. Aber die Stimme bleibt klar und fest. «Ich wäre gerne stärker», sagt sie. An der Tür ihrer Wohnung steht nur ein Vorname, kein Nachname. Sie will nicht, dass er sie findet. Sollte sie jemals etwas sagen, drohte Huber damals, werde er sie finden. Auch in dreissig Jahren. Sie hat Angst, immer noch.
Zuletzt gesehen hat sie ihn vor Gericht, vor etwas mehr als einem Jahr. Das Kantonsgericht in der Ostschweiz hatte ihn zum zweiten Mal wegen Vergewaltigung, mehrfacher qualifizierter Vergewaltigung, Inzest, mehrfacher sexueller Nötigung und mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern schuldig erklärt und zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Nur hat der Täter seine Strafe nicht angetreten. Er ist verschwunden.
Es ist dies eine Geschichte, die von der Ohnmacht der Opfer sexueller Gewalt berichtet und der Ohnmacht der Justiz vor ihren eigenen Ansprüchen. Eine Leidensgeschichte, die vor vierundzwanzig Jahren ihren Anfang nahm und in einen Prozess mündete, der sich fast sechs Jahre hinzog. Der drei verschiedene Gerichte beschäftigte, zwei Anwältinnen und einen Pflichtverteidiger, Gutachter und Beamte der Opferhilfe, Polizisten, Psychiater und Therapeutinnen. Die Akten dazu füllen einen grossen Karton, Yvonne nennt ihn die Erinnerungsbox. Es ist aber auch eine Geschichte, die zeigt, dass es richtig war, Sexualdelikte an Kindern unverjährbar zu machen — auch wenn diese Bestimmung die Justiz vor grosse Herausforderungen stellt, im Kindesalter erfahrenes Unrecht zu sühnen.
Für Yvonne begann alles im Jahr 1988. Damals zog Huber mit seiner Frau, Emily und einer zweiten Tochter ins Dorf. 500 Einwohner, beschauliche Häuser, am Dorfrand Neubauten, herrliche Bergkulisse. Yvonne lernte Emily im Kindergarten kennen, ein wildes Kind, etwas verwahrlost auch. Emily sei asozial, sagten Yvonnes Eltern. Für Yvonne war sie etwas Besonderes, auch wenn die anderen Kinder das wilde Mädchen mieden.
Emily und Yvonne wurden Freundinnen. Emily hatte oft blaue Flecken, benutzte vulgäre Wörter. Und immer wieder berichtete sie, wie sie mit dem Vater Spagat üben musste, bis es blutete. Mit den Puppen spielte sie Vergewaltigung. Manchmal ging Emily auf Yvonne los. Es war eine Hassliebe. Aber Emily faszinierte Yvonne. Oft hatte sie sturmfrei, dann schauten sich die beiden Mädchen Disneys gesammelte Werke an.
Emilys Vater war manchmal auch da. Gross, ein Berg von einem Mann. Sehr nett, fürsorglich, er spielte mit den beiden Mädchen, erzählte ihnen Geschichten, suchte ihre Nähe. Aber eines Tages bekam er diesen irren Blick. Er holte Yvonne zu sich ins Büro: ein Bett, ein Tisch, ein Bildschirm. Emily wusste schon, was kommen würde, und verschwand. Yvonne ist allein mit Emilys Vater. Er packt sein Geschlechtsteil aus. Er fasst Yvonne an. Sie will gehen, aber er lässt sie nicht weg. Dann vergewaltigt er sie.
Fünf Jahre lang, immer wieder. Bis zu jenem Vorfall im Frühjahr 1993. Emily und Yvonne werden vor Gericht aussagen, wie Huber zusammen mit zwei anderen Männern sie in einen Keller führte, sie an Matratzen kettete. Dann stellte er sie den beiden, der eine ein Bodybuildertyp, der andere ein Dünner mit Kropf, zur Verfügung, während er zuschaute. Die Männer amüsierten sich über die Angst in den Augen der Kinder. «Die sind ja noch nicht richtig eingeritten», sagten sie. So steht es in den Akten der Erinnerungsbox, die Yvonne nur dann öffnet, wenn sie muss. Sie hofft immer noch, dass der Huber seine Strafe bekommt.
Yvonne hat heute einen Job, eine Partnerschaft, Zukunftspläne. Sie schafft es, ohne Medikamente und Psychopharmaka zu leben. Trotz der Depressionen und der Panikattacken: «Ich fühle mich wie ein zusammengeflickter Zombie», sagt sie. Yvonne hat aber auch eine Wut. Eine riesige Wut.
Sechs Jahre hat sie gegen den Täter prozessiert und in allen Instanzen gewonnen. Sechs Jahre lang besuchte sie jede Einvernahme, Anhörung, liess gerichtsmedizinische Untersuchungen und Befragungen über sich ergehen. Sie bekam recht, vor dem Bezirksgericht, dem Kantonsgericht, dem Bundesgericht: Trotzdem sitzt sie heute im Dunkeln in ihrer Wohnung und hat Angst, weil sie nicht weiss, wo Huber ist. Wie konnte das nur passieren?
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Die Opfer haben keine präzise Erinnerung mehr an den Tatort. Foto: Keystone |
Die Opfer haben keine präzise Erinnerung mehr an den Tatort. Foto: Keystone |
Ein kalter Dezemberabend im Jahr 2004. Yvonne sitzt im Zug nach Zermatt, Winterluft zieht durch die Fensterritzen. Plötzlich geht die Tür auf, und im Abteil steht Emily. Acht Jahre sind vergangen, seit die beiden Frauen sich zuletzt gesehen haben. Emilys Familie war 1993 aus dem Dorf weggezogen, Emily kam ins Kinderheim, von da in die Psychiatrie, ins betreute Wohnen, wieder in die Psychiatrie. Yvonne verbrachte eine Jugend mit schwarzen Kleidern, schwarzen Gedanken, schwarzer Wut. Anfangs schrieb sie Emily sporadisch, besuchte sie im Kinderheim. Über die Vorfälle sprachen sie nie — es schien zu bedrohlich. Dann verloren sie sich aus den Augen. Bis zu diesem Dezemberabend im Zug. Auch jetzt sprechen sie das Thema nicht an. Aber sie versichern sich, in Kontakt zu bleiben, tauschen Telefonnummern und Adressen aus.
Die Beziehung zwischen den beiden Frauen, die in Wirklichkeit anders heissen, wird während des Prozesses eine besondere Bedeutung bekommen. Warum haben die beiden so kurz vor der Verjährung der grausamen Übergriffe plötzlich doch noch beschlossen, den Täter zur Verantwortung zu ziehen? Haben sie sich abgesprochen? Sind sie glaubhaft?
Yvonne kommt aus einer intakten Familie, trotz ihrer turbulenten Jugend war sie nie in Therapie. Kurz nach der Begegnung schreibt ihr Emily einen Brief. Ob Yvonne wisse, was mit ihr geschehen sei. Dass der Vater sie, Emily, jahrelang sexuell missbraucht habe. Yvonne weint. Ja, sie weiss es. Auch sie wurde missbraucht. Bildfetzen tauchen auf, täglich neue. Nichts ist vorbei, es beginnt gerade erst. Emily ist in schlechter psychischer Verfassung, trotz jahrelanger Therapie. Aber zusammen beschliessen die beiden Frauen, etwas zu unternehmen. Sie gehen zur Opferhilfe, schildern dort die Übergriffe. Man rät ihnen zunächst von einer Anzeige ab. Wegen Yvonne. Ohne Therapie werde sie das nicht durchstehen.
Darauf sucht Yvonne sich eine Therapeutin. In ihrer ersten Stunde sagt sie: «Ich wurde als Kind jahrelang missbraucht. Aber wenn sie mir Psychopharmaka geben, gehe ich gleich wieder.» Sie bleibt. Sie arbeitet auf, was geschehen ist. Lernt, dass dies der Schlüssel ist zu ihren Problemen. Derweil berät die Opferhilfe die beiden Frauen, wie sie wegen des Prozesses vorgehen sollen. Maximal zwei Jahre, sagt man Yvonne. Dann sei die Sache über die Bühne.
Im August 2007 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Huber, Emilys Vater, wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern. Damit beginnt ein Indizienprozess von gewaltigen Ausmassen. Ungeheure Anschuldigungen stehen im Raum, Huber, Lastwagenfahrer, ist bereits wegen eines Banküberfalls vorbestraft, bezieht aber inzwischen Invalidenrente wegen seiner Adipositas. Er streitet alles ab. Die beiden Opfer sind psychisch labil. Ein extrem anspruchsvoller Fall.
Die Gruppenvergewaltigung fand 1993 statt. Die Frauen waren damals zehn Jahre alt und das Gesetz sah eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vor, weil eine «erhebliche Wahrscheinlichkeit» bestehe, «dass ein Kind derartige sexuelle Handlungen nach einer gewissen Zeit zu verarbeiten vermöge». Ausserdem sei die Durchführung eines Strafverfahrens nach fünf Jahren oder mehr womöglich ein «stärkerer Eingriff in die Persönlichkeit des Opfers als das Delikt selbst». Doch dann wurde das Sexualstrafrecht mehrmals verschärft.
Zum Zeitpunkt der Anklage gilt eine Verjährungsfrist von 15 Jahren, nur die letzten Übergriffe sind noch strafrechtlich verfolgbar. Die Missbräuche haben die Persönlichkeiten der Opfer massiv beschädigt, beinahe zerstört, und beide kämpfen auf ihre Art dagegen an. Emily leidet unter einer schweren BorderlineStörung, Yvonne unter Wut und Depressionen. Die Staatsanwaltschaft konzentriert sich also auf die letzten Missbräuche.
Doch wie beweist man Taten, die sich 14 Jahre zuvor ereignet haben, für die es keine objektiven Beweise mehr gibt, über die die beiden schwer traumatisierten Opfer nie geredet haben? An die sie keine zusammenhängende Erinnerung mehr aufbringen können, geschweige denn präzise Angaben über Örtlichkeit und Tatzeitpunkt machen?
Aus dem Protokoll von Emilys Einvernahmen: Untersuchungsrichterin: «Wenn Sie sich nicht erinnern können, sagen Sie bitte, dass Sie sich nicht erinnern können. Wenn Sie sich einer Sache nicht sicher sind, dann sagen Sie, dass Sie sich nicht sicher sind.» Emily: «Ja.» UR: «Bei der Befragung vom 26. April 2006 haben Sie erzählt, dass es zu einem letzten sexuellen Übergriff durch Ihren Vater auf einem Parkplatz kam. Ist dies richtig?» E: «Ich weiss nicht mehr.» UR: «Aber an den Vorfall können Sie sich erinnern?» E: «Ja.» UR: «Bitte schildern Sie, wie es dazu kam.» E: «Ich weiss nicht mehr. Ich habe ein Black-out. Ich weiss nicht mehr, wie wir dahin kamen.» UR: «Wissen Sie noch, was dort geschah?» E: (studiert lange) «Muss durch die Bilder gehen … Ich weiss es nicht. Ich will nichts Falsches sagen.» UR: «Haben Sie eine Erinnerung daran, oder können Sie sich im Moment an gar nichts mehr erinnern?» E: «Ich habe einfach ein Bildstück.» UR: «Können Sie das beschreiben?» E: «Ich sehe ihn einfach nackt, und fertig.»
Yvonnes Aussagen sind klarer und sehr detailliert. Aus dem Protokoll der Einvernahmen: UR: «Können Sie mir den Kellerraum noch genauer beschreiben?» Y: «Beim Hauseingang hatte es einen Vorraum. Dort geht es die Treppe hinunter. Dort hatte es einen Heizungsraum. Ich weiss noch, wie es dort roch, aber das nützt Ihnen wohl nichts.» UR: «Können Sie den Geruch beschreiben?» Y: «Es war ein eigenartiger Geruch. Nicht gelüftet, nach Zigaretten, Schweiss, ein bisschen nach Putzmitteln. Es war einfach muffig.»
Im Januar 2008, fünf Monate nach der ersten Anklageerhebung, fällt das Bezirksgericht sein Urteil: Huber wird in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Er wird ausserdem zu Schadenersatz und Genugtuung samt Zins und Zinseszins verurteilt und muss sämtliche Verfahrenskosten tragen. Sein Anwalt legt Berufung ein, verlangt Entschädigung für die ihm zugemutete Unbill des Prozesses und zieht den Fall an das Kantonsgericht weiter.
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Nach den Übergriffen versteckte sich Yvonne jeweils beschämt. Foto: Luis Berg (Keystone) |
Foto: Luis Berg (Keystone)
Während der Prozess in die zweite Runde geht, arbeitet Yvonne¹) Vollzeit. Sie hat einen neuen Job in einer neuen Stadt, die ihr gefällt. Morgens um sechs aufstehen, mit Tram oder Auto zur Arbeit, bis spät in die Nacht im Büro. Dazwischen gibt es Einvernahmen, Gegenüberstellungen, Aussagen. Es werden bohrende Fragen gestellt: «Wann genau, an welchem Datum hat er Sie angefasst? Wie genau? Letztes Mal haben Sie gesagt, Sie erinnern sich nicht.» Emily steht unter Psychopharmaka und Beruhigungsmitteln, oft bringt sie die Ereignisse durcheinander. Manchmal erscheint sie gar nicht vor Gericht. Yvonne gibt immer wieder Antwort auf dieselben Fragen: «Warum haben Sie sich nicht gewehrt? Warum sind Sie wieder da hingegangen? Warum haben Ihre Eltern nichts gemerkt?»
Im Büro kennt niemand Yvonnes Vergangenheit. Sie weiss inzwischen, dass ihre Geschichte die Leute überfordert, weshalb sie lieber schweigt. «Ich wollte nicht, dass alle denken, ich sei ein Freak.» Bei den Aussagen vor Gericht sitzt Huber jeweils im Nebenraum, abgeschirmt von den Opfern. Doch dann steht er eines Morgens, an einem Donnerstag im Frühjahr 2008, vor dem Eingang ihres Arbeitsorts. Yvonne kommt vom Parkplatz her. An der Tür steht er, sagt nichts, starrt nur. Sie kennt diesen Blick, aber sie ist nicht mehr das Kind, das sie war. Sie rennt am Täter vorbei, zum Lift, auf die Toilette. Dort bricht sie zusammen. Zittert, erbricht sich, erleidet Blutungen. Später holt ihre Schwester sie ab. Yvonne informiert die Polizei. Die kann nichts tun: Solange kein rechtskräftiges Urteil vorliegt, ist Huber ein freier Mann. Und seine Rechtsmittel scheinen unerschöpflich.
Am Montag wählt Yvonne vorsichtshalber den Hintereingang. Von ihrem Bürofenster aus sieht sie wieder Huber am Eingang stehen. Sie greift zum Telefon und ruft dessen Anwalt an. Er solle Huber zurückpfeifen, sagt sie. Sonst könne sie für nichts garantieren. Sie denkt an das Jagdgewehr des Vaters.
Juristisch läuft alles korrekt, aber der Fall ist kompliziert, eine Verurteilung eher unwahrscheinlich, glaubt der Staatsanwalt. In akribischer Kleinarbeit wird vor Gericht nach der Wahrheit gesucht. «Wir haben einen gigantischen Aufwand getrieben», sagt der Staatsanwalt heute. «Wäre die prozessführende Staatsanwältin nicht so ungeheuer hartnäckig und pflichtbewusst gewesen, wäre es wohl kaum zu einer Verurteilung gekommen.» Eine der Hauptschwierigkeiten liegt darin, dass sich die Anschuldigungen der beiden Frauen kaum objektivieren lassen. Emilys Aussagen sind teilweise verworren, enthalten Widersprüche. Das weiss auch die Verteidigung. «Es gab keine zusammenhängende Sachverhaltsdarstellung», sagt der Verteidiger des Täters, der die Gruppenvergewaltigung stark anzweifelt. «Ich vermute, dass die beiden Frauen tatsächlich Opfer von sexuellen Übergriffen geworden sind, aber nicht in der beschriebenen Weise und nicht im unverjährten Bevreich.»
Er verlangt eine Tatortbegehung des Kellers, in dem die Gruppenvergewaltigung stattgefunden haben soll. Doch der Keller wurde inzwischen umgebaut. Er verlangt eine Befragung von Yvonnes Eltern, das Gericht lehnt ab. Stattdessen lässt es ein umfangreiches Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen, 76 Seiten, sehr differenziert. Die Gutachter kommen zum Schluss, dass die Aussagen Emilys nur eingeschränkt als Beweismittel taugen, eine Folge der Missbräuche. Zusammen mit Yvonnes Aussagen aber sind sie insgesamt glaubwürdig.
2008 ist ein dunkles Jahr für Yvonne. Den Prozess anzugehen, war eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Nach dem Vorfall mit dem Täter wird sie schwer suizidal, kündigt die Arbeitsstelle. Im Vorfeld der Gerichtsverhandlung hat sie einen Brief an ihre Eltern und die Schwestern geschrieben, sie aufgeklärt, was ihr als Kind geschehen ist. Der Brief wirkt auf die Familie wie ein Erdbeben. Die Ehe der Eltern wird erschüttert, jeder macht dem anderen Vorwürfe²). Warum hat die Mutter nicht aufgepasst? Warum hat der Vater sich nicht gekümmert? Wurde im Dorf nicht über den Täter gemunkelt? Weltbilder brechen zusammen. Nicht immer sind die Dinge so, wie sie scheinen. Warum nur hatte niemand etwas gemerkt?
Nach den Übergriffen versteckte Yvonne sich jeweils zutiefst verschreckt in der Hundehütte, beschämt und verängstigt. Bis man ihr nichts mehr anmerkte. Niemand durfte etwas wissen, das wäre die Katastrophe. Sie wartete darauf, bis alles wieder normal wurde. Und irgendwann ging sie wieder spielen zu Emily. Bis der Täter wieder diesen komischen Blick bekam. «So abartig es tönt, irgendwann stellt sich ein Gefühl von Normalität ein», erklärt sie heute.
Im November 2008 nimmt das Schweizer Stimmvolk eine Initiative an, welche die Unverjährbarkeit von Sexualstraftaten an Kindern vorsieht. Der Entscheid ist knapp. Aber die Einsicht, dass Missbrauchsopfer oft Jahre brauchen, bis sie über die Taten reden oder überhaupt in Betracht ziehen, juristisch gegen die Täter vorzugehen, setzt sich durch. An Yvonnes Prozess zeigen sich aber auch die Schwierigkeiten in der Umsetzung, der Beweisführung.
22 Monate nach der Anklageerhebung fällt das Kantonsgericht im Juni 2009 sein Urteil: schuldig. Im Unterschied zum Kreisgericht anerkennt das Kantonsgericht aber nur drei Fälle von Vergewaltigung. Auch das Strafmass fällt geringer aus. Im Urteil heisst es zur Begründung: «Die Anklagebehörde hat es insbesondere unterlassen, gerade die schwersten Vorwürfe durch gezieltes Befragen der Opfer und Abklärungen bei Behörden und Ämtern verlässlich zeitlich festzulegen. Dadurch konnten mehrere, im Grundsatz als historische Ereignisse nachgewiesene Tathandlungen, darunter zwei Vergewaltigungen, nicht mehr zweifelsfrei den noch nicht verjährten Zeitabschnitten zugeordnet werden, weshalb in diesen Fällen nach den strafprozessualen Beweisregeln kein Schuldspruch erfolgen durfte.»
Trotzdem hält das Gericht das schwere Verschulden Hubers fest. Einzig die Beinahe-Verjährung wirkt strafmildernd. Das sagt der Staatsanwalt auch heute noch: «Das Gericht hat sich an der Maximalstrafe orientiert, das ist für unseren Rechtsstaat eine sehr harte Strafe, so kurz vor der Verjährung. Immerhin haben wir den Grundsatz eines Rechts auf Vergessen.»
Ein Recht auf Vergessen hätten auch die Opfer gern. Doch kein Rechtsstaat kann ihnen zurückgeben, was sie verloren haben. Oder sie zumindest vor den Erinnerungen bewahren. Noch können die Frauen nicht abschliessen, noch immer sind die Rechtsmittel nicht ausgeschöpft. Huber geht vor Bundesgericht. Zweieinhalb Jahre nach der Anklageerhebung heisst das Bundesgericht im März 2010 die Beschwerde gegen das zweite Urteil teilweise gut. Das Kantonsgericht muss den Fall erneut bearbeiten.
Wieder vergeht ein Jahr. Im Juli 2011 bestätigt das Kantonsgericht sein früheres Urteil, spricht den Täter schuldig, verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren, verpflichtet ihn zu Schadenersatz- und Genugtuungszahlungen und zur Übernahme der Prozesskosten. Auch gegen dieses Urteil legt der Angeklagte Beschwerde ein.
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¹) | Alle Namen geändert. |
²) |
"Jeder macht dem anderen Vorwürfe: Warum hat die Mutter nicht aufgepasst?
Warum hat sich der Vater nicht gekümmert?". |
Für das Opfer war der lange Prozess umsonst, «eine totale Nullrunde». Foto: Keystone |
November 2012. Fast zwanzig Jahre sind vergangen, seit Yvonne³) schwer missbraucht wurde. Diese Jahre sind ausgelöscht, wenn die Panikattacken kommen, die Erstickungsanfälle und Blutungen. Zwar ist der Missbrauch vorbei, der Prozess, die Befragungen. Doch zu Ende ist es für Yvonne noch nicht.
Nach sechs Jahren sind alle Beschwerden abgewiesen, auch ein Gesuch um Haftaufschub, wogegen der Täter nochmals Rekurs einlegt, dem wiederum nicht nachgekommen wird. Mit dem letzten Verdikt im Februar 2012 liegt endlich ein rechtskräftiges Urteil vor. Der Täter wird zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt, Huber muss ins Gefängnis. Yvonne beginnt, sich mit der Geldfrage auseinanderzusetzen. Rund 100'000 Franken Genugtuung und Entschädigung stehen ihr zu. Von Huber, wegen seiner Adipositas vollinvalid, ist kein Geld zu erwarten. Für solche Fälle gebe es die Opferhilfe, sagte man ihr während des Prozesses. Noch im Januar hatte sich Yvonnes Anwältin erkundigt, wie sie ihr Geld denn anzulegen gedenke. Und Yvonne hatte sich informiert. Vielleicht die Ausbildungsschulden abtragen. Oder ausgedehnte Ferien auf einer Insel machen.
Als das rechtskräftige Urteil vorliegt, gibt es Probleme. Laut altem Opferhilfegesetz hätte Yvonne nämlich bis spätestens zwei Jahre nach dem letzten Übergriff ein Gesuch um Entschädigungs- und Genugtuungszahlungen stellen müssen. Also mit zwölf Jahren. Yvonne nimmt sich eine neue Anwältin. Sie soll prüfen, ob man doch noch einen Anspruch geltend machen kann. Wo Huber denn seine Strafe absitze, fragt die Anwältin. Das weiss Yvonne nicht. Sie beginnt herumzutelefonieren. Sie fragt das Gericht. Dort heisst es, man könne nichts sagen, sie solle sich bei der Opferhilfe erkundigen. Die Opferhilfe sagt, sie solle das in der Therapie klären. «Ich will bloss wissen, wo der Täter einsitzt. Ich will nicht, dass mir jemand sagt, ich solle mich entspannen», sagt sie. Schliesslich der Bescheid des Amts für Justizvollzug: Der Verurteilte ist weg.
Im Normalfall, so teilt das zuständige Amt mit, schickt die Justizvollzugsbehörde dem Verurteilten einen Vollzugsbefehl zum Antritt der Strafe innert dreier Monate. Huber sollte im Mai ins Gefängnis. «Im Verfahren um einen möglichen Strafaufschub erfuhren wir, dass der Täter sich bereits seit Ende 2011 im Ausland aufhält», sagt das Amt für Justizvollzug. Vom Pflichtverteidiger ist zu erfahren, dass Huber sich ordentlich im Ausland angemeldet hat. Ob er nach wie vor seine Invalidenrente bezieht, weiss niemand. Das Amt für Sozialversicherung gibt keine Auskunft. Das Amt für Justizvollzug sagt, in einem solchen Fall müsste die Rente sistiert worden sein. Allerdings habe man bislang nichts von der Rente gewusst, also auch niemanden informiert. Wird nach dem Täter gefahndet? «Zuständig für die Einleitung solcher Massnahmen sind wir als Vollzugsbehörde. Wir sind in solchen Fällen aber auf die Unterstützung der ausländischen Behörden angewiesen und haben auf deren Arbeit keinen Einfluss», heisst es.
«Das Geld», sagt Yvonne, «wäre mir egal. Das Wichtigste war mir, dass er wegkommt. Doch die sechs Jahre Prozess waren eine totale Nullrunde.» Der Staatsanwalt widerspricht vehement. «Eine Tragödie wäre es gewesen, wenn es zum Freispruch gekommen wäre. Dass der Täter so kurz vor der Verjährung im Rahmen der Gesamtumstände so hart verurteilt wurde, ist als Erfolg unseres Rechtsstaates zu werten.» Im Prozess, so der Staatsanwalt, spiegelt sich aber auch der Zeitgeist. Heute wird die sexuelle Selbstbestimmung als höchstes Gut gewertet. Aber bei solchen Sexualdelikten steht am Ende Aussage gegen Aussage. Nur Indizienketten führen zur Wahrheit.
Zweifel bleiben. Sechs Jahre hat der Staat prozessiert, unter gewaltigem Aufwand. Und am Ende steht er mit leeren Händen da. Wäre es angezeigt gewesen, den Täter in Sicherheitshaft zu nehmen? Zuständig dafür wäre das Gericht, das aber jede Verantwortung von sich weist: Man habe zum Zeitpunkt des zweiten Urteilsspruchs keinen Grund für eine Haftanordnung, keine Fluchtgefahr zu erkennen vermocht. Der Verurteilte sei zu jeder Verhandlung erschienen. Dass der Täter in vierter Ehe mit einer Thailänderin verheiratet ist, gilt nicht als Verdachtsmoment. Dass ein Mann aus Thailand unter dem Namen des Verurteilten Leserkommentare auf Schweizer Onlineportalen hinterlässt, fällt niemandem auf. Nur Yvonne. Aber an wen soll sie sich mit diesen Informationen wenden?
Yvonne kämpft weiter. «Ich könnte ebenfalls eine Invalidenrente beziehen, aber wer will das mit 29 Jahren? Also arbeite ich. Und dann werde ich von allen wieder zum Opfer gemacht.» Manchmal frage sie sich: Ist das wirklich alles geschehen? Dann kommen die Erinnerungen, und sie weiss alles wieder. Manchmal wünscht sie sich, dass alles dunkel wird. Aber dann kehrt die Wut zurück, und Yvonne greift zum Telefon. Es kann schliesslich nicht sein, dass so einer einfach davonkommt. Oder doch?
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³) | Die Namen des Opfers und des Täters wurden aus Gründen des Opferschutzes geändert. |
Eigentlich sollte der Mann, der seine minderjährige Tochter und deren Freundin jahrelang sexuell misshandelte, im Gefängnis sitzen. Er wurde zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt (TA von gestern). Stattdessen lebt er bislang unbehelligt in Thailand, und die Schweizer Invalidenversicherung überweist ihm wegen seiner Fettleibigkeit auch noch eine Rente. Dass der Kinderschänder sich absetzen konnte, erklären die Behörden mit wechselnden Zuständigkeiten und mangelnder Kommunikation zwischen den Ämtern. Sechs Monate lang war schlicht niemand für die Vollstreckung des Urteils zuständig.
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Der entflohene Kinderschänder im Missbrauchsfall, den der «Tages-Anzeiger» öffentlich gemacht hat, bezieht wegen seiner Fettleibigkeit noch immer eine Invalidenrente. Dies berichtete «Schweiz aktuell». Der Rentenanspruch besteht so lange, bis ein verurteilter Straftäter seine Haft antritt, wie ein im August gefällter Grundsatzentscheid des Bundesgerichts besagt. Es sei nicht Aufgabe der IV-Stelle, einen Anreiz zum rechtzeitigen Strafvollzug zu schaffen, schrieb das Gericht. Damit werden Renten auch ins Ausland überwiesen — selbst dann, wenn sich ein Täter durch die Flucht nach Thailand dem Strafvollzug entzieht und dann seine Invalidität als Grund dafür geltend macht, dass er die Strafe nicht antreten könne, wie im vorliegenden Fall.
Dass Huber4) überhaupt fliehen konnte, hat laut dem St. Galler Gerichtspräsidenten Luzius Eugster mit verschiedenen Faktoren zu tun: wechselnde Zuständigkeiten, mangelnde Kommunikation und eine Lücke im System. Zunächst beurteilt die Staatsanwaltschaft, ob eine angeklagte Person vorsorglich verhaftet werden soll. Für eine Sicherheitshaft brauche es konkrete Hinweise auf Verdunkelungs-, Fortsetzungs- oder Fluchtgefahr. Die Staatsanwaltschaft St. Gallen erkannte bei Huber keinen Haftgrund. Der leitende Staatsanwalt Thomas Weltert begründete das damit, dass die Übergriffe lange zurücklagen und Huber sich seither, zumindest punkto Kindsmissbrauch, nichts mehr hatte zuschulden kommen lassen. Dass Huber zum Zeitpunkt des Untersuchungsverfahrens keinerlei Anstalten machte, sich dem Prozess zu entziehen, machte ihn für die Behörden noch unverdächtiger. Zudem sei der Ausgang des mehrjährigen Verfahrens, so Weltert, von Beginn weg höchst ungewiss gewesen. Hätte man Huber in Haft genommen und er wäre freigesprochen worden, wäre der Staat zu Entschädigungszahlungen verpflichtet gewesen.
Im Januar 2011 wurde die Strafprozessordnung geändert, für die Anordnung einer allfälligen Sicherheitshaft war neu das Kantonsgericht St. Gallen zuständig. Das Gericht beurteilte den Fall aber nicht neu, sondern verliess sich auf das Urteil der Staatsanwaltschaft. Das Missbrauchsopfer Yvonne4) hatte zwar gewarnt und auch berichtet, dass der Täter sie bedroht hatte. Dies erreichte die zuständigen Stellen nicht. Weil keine Anhaltspunkte für Fortsetzungs- oder Fluchtgefahr aufgetaucht waren, habe man keinen Anlass gehabt, den Fall neu zu beurteilen.
Im September 2011 lag ein rechtskräftiges Urteil gegen Huber vor. Damit ging die Zuständigkeit vom Gericht ans Amt für Justizvollzug über. Doch dieses war blockiert, weil Huber ein weiteres Mal Berufung einlegte. Damit war das Urteil bis zum Ende des Verfahrens nicht vollstreckbar. Sechs Monate lang war schlicht niemand zuständig für die Vollstreckung. Hier handle es sich, so Luzius Eugster, um eine Lücke im System der Zuständigkeiten, für das eine Lösung gefunden werden müsse. Eine Lücke, die Huber nutzte, um sich ins Ausland abzusetzen.
“«Auch wenn er ein Bein amputiert hat, heisst das nicht, dass er nicht in den Strafvollzug kann.» Joe Keel, Amt für Justizvollzug St. Gallen.”
“«Auch wenn er ein Bein amputiert hat, heisst das nicht, dass er nicht in den Strafvollzug kann.» Joe Keel, Amt für Justizvollzug St. Gallen.”
Doch weshalb kann sich der Täter offiziell in Thailand aufhalten, ohne von der Schweizer Justiz belangt zu werden? Zuständig für ein allfälliges Auslieferungsverfahren ist das Amt für Justizvollzug St. Gallen. Joe Keel, der zuständige Leiter der Behörde, sagte auf Anfrage: «Auch wenn ein Auslieferungsgesuch gestellt ist, obliegt es den lokalen Behörden vor Ort, den Täter in Haft zu nehmen.» Über das Bundesamt für Justiz müssen zahlreiche Unterlagen eingereicht werden, diese müssen übersetzt und in Thailand den entsprechenden Behörden weitergeleitet werden, welche diese dann beurteilen. «Das dauert seine Zeit, besonders bei einem Land, mit dem kein Auslieferungsvertrag besteht.» Für lokale Verhältnisse laufe das Verfahren nach den bisherigen Rückmeldungen aber geordnet und sogar schnell. Laut Recherchen des «Tages-Anzeigers» soll Huber Arztzeugnisse einer internationalen Klinik in Thailand eingeholt haben, die ihm eine Reise- und Hafterstehungsunfähigkeit attestieren. «Das interessiert uns nicht», sagt Joe Keel dazu. «Auch wenn er ein Bein amputiert hat, heisst das noch nicht, dass er nicht in den Strafvollzug kann — oder transportunfähig ist.»
Alle zuständigen Behörden — Staatsanwaltschaft, Gericht und Justizvollzug — betonen, dass das Verfahren prioritär behandelt werde, und geben sich bezüglich eines baldigen Abschlusses zuversichtlich. Könnte es sein, dass die thailändischen Behörden fürchten, dass der gesundheitlich angeschlagene Täter eine Auslieferungshaft nicht überleben würde? «Thailand hat kein Interesse daran, einen Täter gerade aus diesem Bereich zu schützen», sagt Keel.
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4) | Die Namen des Opfers und des Täters wurden aus Gründen des Opferschutzes geändert. |
Der Missbrauchsfall, den der TA vor Weihnachten in einer Artikelserie publik gemacht hat, sorgt gleich mehrfach für Empörung. Erstens wegen der Tat an sich: Da vergewaltigt ein Mann seine Tochter und deren Freundin ab dem Kindergartenalter während Jahren. Zweitens wegen der Flucht des Täters: Er ist nach Thailand ausgewandert und entzieht sich dort der Haft. Drittens wegen der Invalidenversicherung (IV): Sie überweist dem Flüchtigen, der wegen einer Stoffwechselkrankheit stark übergewichtig ist, weiterhin eine Rente — weil das Bundesgericht sie dazu zwingt.
Im August dieses Jahres hat das oberste Schweizer Gericht in einem anderen Fall ein entsprechendes Urteil erlassen. Es ging um einen gewerbsmässigen Betrüger, der ebenfalls Thailand dem Gefängnis vorzog. Ihm strich die IV die Rente, worauf er sich beschwerte und am Ende vor Bundesgericht gewann. Wer sich der Haft entziehe, befinde sich noch nicht im Strafvollzug und habe dadurch weiterhin Anrecht auf eine Rente, befanden die Richter. So wolle es das Gesetz.
Die Gesetzgeber selbst sehen dies offenbar anders und wollen nun das Gesetz ändern, um ihren Willen klar zum Ausdruck zu bringen: keine Renten für Justizflüchtige. Nur drei Tage nach Publikation des Bundesgerichtsurteils hat der Luzerner CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger eine entsprechende Motion eingereicht, die der Bundesrat umgehend behandelt und zur Annahme empfohlen hat. Wer sich dem Strafvollzug entziehe, dürfe nicht bessergestellt werden, als wer sich ihm verweigere, argumentiert die Landesregierung.
Der Nationalrat hat den Vorstoss bereits diskussionslos überwiesen. Auch der Ständerat werde folgen, sagt die Freisinnige Christine Egerszegi, welche die ständerätliche Sozialkommission präsidiert. Die gegenwärtige Rechtslage, die durch das Bundesgerichtsurteil entstanden sei, widerspreche dem Rechtsempfinden.
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Mit einer IV-Rente lässt sich in Thailand gut leben. Foto: Vincent Yu (AP, Keystone) |
Foto: Vincent Yu (AP, Keystone)
Mehrere Jahre lang hat ein Mann im Sarganserland seine Tochter und deren Freundin immer wieder vergewaltigt. Es begann, als die beiden Mädchen noch im Kindergartenalter waren. Und es endete erst, als sie zehnjährig waren. Dafür hat das Kantonsgericht St. Gallen den Mann 2011 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt — wegen mehrfacher Vergewaltigung, Nötigung, Inzests und sexueller Handlungen mit Kindern (TA vom 18. bis 22. Dezember).
Ruedi Lustenberger Der 62-jährige CVP-Politiker ist Vizepräsident des Nationalrats und will verurteilte IV-Rentner für ihre Flucht nicht mehr belohnen. |
Seine Haft hat der Kinderschänder allerdings nie angetreten. Stattdessen zog er im September 2011 mit seiner thailändischen Ehefrau in deren Heimat. Dort liess sich der schwer Übergewichtige für transportunfähig erklären. Die Schweiz versucht nun, ihn mit einem Auslieferungsgesuch doch noch seiner Haftstrafe zuzuführen. Gleichzeitig überweist sie ihm aber weiterhin eine IV-Rente — wegen einer Stoffwechselkrankheit, die seine Fettleibigkeit bewirkt.
Derselbe Staat, den der Mann mit seiner Flucht ausgetrickst hat, schickt ihm also regelmässig Geld. Nicht etwa, weil die Linke nicht wüsste, was die Rechte tut. Sondern weil es das Bundesgericht so will. Der Kinderschänder profitiert von einem Grundsatzentscheid, den das Gericht in einem anderen Fall diesen August fällte. Danach haben verurteilte IV-Rentner, die ins Ausland fliehen, weiterhin Anspruch auf eine Rente.
Konkret ging es um einen gewerbsmässigen Betrüger, der unter anderem auf der Internetplattform Ricardo Gutscheine von Migros und Coop versteigert hatte, die er gar nicht besass. Insgesamt erleichterte er seine Opfer um rund 1,5 Millionen Franken. Dafür verurteilte ihn das Basler Strafgericht zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren. Doch auch er wanderte lieber nach Thailand aus, als ins Gefängnis zu gehen.
Als dies die Invalidenversicherung 2010 vernahm, strich sie dem Betrüger die Rente. Sie berief sich dabei auf einen Gesetzesartikel, wonach die Renten ausgesetzt werden können, wenn sich ein Bezüger «im Straf- oder Massnahmenvollzug» befindet. Damit will man verhindern, dass ein behinderter Häftling bessergestellt wird als ein gesunder Insasse, der im Gefängnis kein Erwerbseinkommen hat.
Keine IV-Rente erhalten auch Ausbrecher. Dies hat das Bundesgericht 2008 im Fall eines Kosovaren entschieden, der sich während eines Hafturlaubs in seine Heimat absetzte und von dort aus auf seine Schweizer IV-Rente pochte. «Es wäre stossend und stünde im Widerspruch zum allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken, wenn jemand aus einer rechtswidrigen Handlung Nutzen ziehen könnte», befand damals das Gericht.
Auf dieses Urteil stützte sich auch das Bundesverwaltungsgericht im Fall des Basler Betrügers, der seine Haft gar nicht erst angetreten hatte. Dieser hatte gegen den Entscheid der IV, ihm keine Rente mehr auszurichten, Beschwerde eingelegt. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte diese ab. Anders das Bundesgericht: Seiner Ansicht nach befindet sich eine verurteilte Person rechtlich noch nicht im Strafvollzug. Es bestehe daher keine gesetzliche Grundlage, um die Rente zu verweigern.
Wörtlich schreiben die drei Richter und zwei Richterinnen: «Die IV-Stelle soll keinen Nutzen aus dem verspäteten Strafantritt ziehen können.» Und: «Es ist nicht Aufgabe der IV-Stelle, durch einen frühen Sistierungsbeginn einen Anreiz zum rechtzeitigen Strafvollzug zu schaffen.»
CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger hütet sich, das Bundesgericht zu kritisieren. Aber er sagt: «Die Richter haben sehr formalrechtlich entschieden.» Als er vom Urteil gelesen habe, habe er gedacht, «das kann doch nicht sein» — und kurz darauf eine Motion eingereicht. Sie verlangt vom Bundesrat eine Gesetzesrevision, «damit sich für einen verurteilten Empfänger von Leistungen aus den Sozialversicherungen die Flucht ins Ausland nicht mehr lohnt».
Lustenberger rannte damit bei der Landesregierung offene Türen ein. Sie findet die gegenwärtige Rechtslage ebenfalls «stossend», auch wenn es «nur relativ selten» zu solchen Fällen komme. Sie empfiehlt daher, die Motion anzunehmen, was der Nationalrat am letzten Sessionstag dieses Jahres bereits getan hat.
Nun ist die Sozialkommission des Ständerats an der Reihe. Deren Präsidentin, Christine Egerszegi, ist überzeugt, dass auch die kleine Kammer eine Anpassung des Gesetzes gutheissen wird. «Es geht nicht an, dass gewissermassen belohnt wird, wer seine Strafe nicht antritt», findet die freisinnige Aargauerin. Überdies stellten solche Fälle die IV in ein schlechtes Licht.
Egerszegi erwägt, Lustenbergers Vorstoss prioritär zu behandeln, um das Tempo von National- und Bundesrat halten zu können. Die Landesregierung brauche aber nicht die Motion abzuwarten, sondern könne auch von sich aus tätig werden. Das Bundesamt für Sozialversicherungen klärt nun ab, ob es die Gesetzesanpassung an eine andere Revision anhängen oder eine eigene Minirevision vorschlagen will. Ginge es nach Lustenberger, sollten die Folgen des Bundesgerichtsurteils Anfang 2014 korrigiert sein.
Urteil 8C_289/2012 vom 30.8.2012