Die BKW darf ihr AKW weiter betreiben — solange die Risse im Kernmantel nicht stark wachsen. Die geplanten Nachrüstungen erhalten überraschend gute Noten.
Ein zähes Tauziehen ist dem gestrigen Entscheid der Atomaufsicht zum AKW Mühleberg vorangegangen. Im Herbst 2013 entschied die BKW Energie AG, ihr Atomkraftwerk Mühleberg 2019 abzuschalten, um sich eine umfassende Nachrüstung zu ersparen. Doch die ersten Vorschläge der BKW für bescheidenere Sicherheitsverbesserungen wies das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) zur Überarbeitung zurück. Kurz darauf warf das Ensi der BKW-Spitze in unüblicher Schärfe vor, sie kümmere sich zu wenig um die Sicherheit im AKW.
Gestern klang es am Ensi-Hauptsitz in Brugg ganz anders. Die überarbeiteten Vorschläge der BKW für kleinere Sicherheitsmassnahmen erhielten gute Noten. «Damit kann Mühleberg bis zur endgültigen Ausserbetriebnahme 2019 sicher betrieben werden», sagte Ensi-Direktor Hans Wanner. Allerdings nannte das Ensi einen wichtigen Vorbehalt: Das AKW müsse sofort abgeschaltet werden, falls die Risse im Kernmantel stark wachsen sollten. Das Ensi hat dafür zwei Kriterien festgelegt.
Generell kommt die Aufsicht aber zu einem positiven und auch überraschenden Befund: Die Einzelmassnahmen, welche die BKW nun umsetzen wird, würden das Risiko einer Kernschmelze sogar ein bisschen stärker senken als die ursprünglich geplante umfassende Nachrüstung. Von Journalisten wurde deshalb gestern in Brugg die Frage aufgeworfen, ob die BKW das gute Resultat der Risikoberechnung verwenden könnte, um das AKW doch noch einige Jahre über 2019 hinaus zu betreiben. Vonseiten des Ensi liess man durchblicken, dass solche «Spiele» zwar rechtlich möglich, aber nicht ratsam wären. BKW-Sprecherin Murielle Clerc dementierte auf Anfrage entsprechende Absichten: «Die BKW hält am Ausstiegstermin 2019 fest.»
Bisher war die Wahrscheinlichkeit von Kernschmelzen im AKW zu hoch. Laut dem Ensi werden die Werte mit den Massnahmen nun unter die Kennzahlen ihrer Richtlinie sinken, die für Nachrüstungen massgebend ist. Die Organisation Fokus Anti-Atom verweist dagegen auf eine andere Bestimmung derselben Richtlinie. Sie verlangt, dass keine einzelne Ursache mehr als 60 Prozent des Gesamtrisikos für eine AKW-Kernschmelze ausmachen darf. Die Gefahr eines Erdbebens jedoch mache laut den neuen Ensi-Zahlen sogar 83 Prozent des Risikos aus. «Ein grosser Teil der Sicherheitssysteme ist nach wie vor zu wenig robust gegen Erdbeben ausgelegt», kritisiert der Präsident von Fokus Anti-Atom, Jürg Aerni. «Es ist ein Skandal, dass das Ensi über diese Tatsache hinweggeht.»
Laut den Ensi-Rechnungen ist das Risiko einer Kernschmelze in Mühleberg drastisch gesunken. Von 1:40'000 im Jahr 2012 auf 1:120'000 Ende 2014. Mit den zusätzlichen Massnahmen wird es auf 1:160'000 sinken. Wie ist eine so starke Reduktion des Risikos in so kurzer Zeit möglich? Der Hauptgrund ist laut dem Ensi, dass die BKW den Wohlensee-Damm beim AKW mit Stahlpfeilern gegen Erdbeben verstärkt hat. Ursprünglich hatte die BKW dies als freiwillige Massnahme angekündigt. Nun zeigt sich, dass sie dringend nötig war. Zudem sind laut Ensi-Vizedirektor Georg Schwarz Massnahmen zum sogenannten Unfallmanagement «ein nicht unwichtiger Teil» zur Reduktion des Risikos.
Unfallmanagement kann bedeuten, dass die Reaktormannschaft oder die Feuerwehr von Hand eingreifen müssen, um einen Unfall zu verhindern. Dies hatte das ENSI schon 2011 als letzte Notfallmassnahme bei Extremhochwassern akzeptiert. Nun werden solche Massnahmen als letztes Mittel bei diversen Unfallabläufen vorgesehen. So werden am Notstandssystem Susan Stutzen montiert, damit Feuerwehrleute von aussen Wasser zur Kühlung hineinpumpen könnten. Dies entweder aus der Aare oder sogar aus der weiter entfernten Saane. Die BKW hat bereits geprobt, ob die Feuerwehr rechtzeitig Schläuche bis zur Saane legen könnte. Das Ensi hat dies als weitere «zuverlässige Wasserbezugsquellen» akzeptiert. In der ursprünglichen umfassenden Nachrüstung war eine fest installierte Kühlwasserleitung zur Saane vorgesehen.
Damit hätte Mühleberg das erhalten, was alle anderen AKW in der Schweiz besitzen: eine von der Aare (oder dem Rhein) unabhängige zweite Kühlquelle. Eine solche baut die BKW zwar auch. Aus dem Trinkwassernetz kann Wasser in ein Hochreservoir und von dort ins Notstandssystem Susan gepumpt werden. Bei einem schweren Erdbeben würde dieses zusätzliche Kühlsystem allerdings zusammenbrechen.
Auch der neue sogenannte Eintauchkühler für das Becken mit den abgebrannten Brennstäben, den die BKW bis 2016 installieren wird, ist laut dem Ensi «kein vollwertiges Sicherheitssystem». Ein solches soll erst nach der AKW-Abschaltung 2019 entstehen, denn das Brennstabbecken wird danach weiter gebraucht. Deshalb wird dann das Reaktorkühlsystem für das Becken verwendet — allerdings dauert es nach der AKW-Abschaltung neun Monate, bis das Kühlsystem umgebaut ist.
* * *