Blick in den Kontrollraum des stark bemängelten Atomkraftwerks Mühleberg.
Foto: Gaëtan Bally (Keystone)
Blick in den Kontrollraum des stark bemängelten Atomkraftwerks Mühleberg.
Foto: Gaëtan Bally (Keystone)
Abschottung und Offenheit hielten sich gestern beim Sitz des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) in Brugg die Waage. Journalisten mussten gleich drei Kontrollen passieren — schliesslich demonstrierte vor dem Eingang ein bunter Trupp AKW-Gegner. Zugleich waren Vertreter von Greenpeace offiziell an die Pressekonferenz des Ensi zur Sicherheit der Schweizer Atomkraftwerke nach Fukushima eingeladen.
Eine grosse Spannweite wiesen auch die Botschaften des Ensi auf. «Die Aussage, dass die schweizerischen Kernkraftwerke sicher betrieben werden, gilt bis zum heutigen Tag», betonte Ensi-Direktor Hans Wanner. Doch die Hauptbotschaft des Ensi war eine andere: Alle fünf AKW in der Schweiz weisen Sicherheitsmängel auf. Dies hat die Auswertung der Berichte ergeben, welche die AKW-Betreiber nach der Reaktorkatastrophe in Japan einreichen mussten.
Am längsten ist die Liste der Sicherheitsmängel beim AKW Mühleberg: Es braucht eine neue Wasserversorgung zur Kühlung. Nach einem Erdbeben oder einer Überflutung wäre die Kühlung des AKW und der Becken mit den Brennelementen ungenügend. Abgesehen vom Punkt Wasserversorgung sieht es bei den zwei anderen alten AKW Beznau I und II nicht besser aus. Bei den vergleichsweise jüngeren AKW Leibstadt und Gösgen ist die Liste hingegen kurz.
Trotz der festgestellten Sicherheitsdefizite will das Ensi kein AKW abschalten. «Es besteht keine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung», sagte Wanner. Diese Aussage stützt das Ensi darauf, dass extreme Naturkatastrophen in der Schweiz sehr selten sind.
Hätte die Region Bern allerdings das Pech, in nächster Zeit von einem Erdbeben in einer Schwere, wie sie in der Schweiz grundsätzlich möglich ist, erschüttert zu werden — dann wäre die Lage in Mühleberg kritisch. Dies zeigten die Antworten des stellvertretenden Ensi-Direktors Georg Schwarz auf entsprechende Nachfragen. Wenn bei dem Beben der nahe Wohlensee-Staudamm bräche, dann könnten die Wasserversorgung und die externe Stromzufuhr wegfallen. «Auch dann ist nicht alles verloren», sagte Schwarz zwar. Mit dem im AKW vorhandenen Wasser könne der Reaktor drei bis fünf Tage lang gekühlt werden – falls die Notstromdiesel dann funktionieren und Strom für die Pumpen liefern. Sollten auch diese versagen, gibt es Batterien, die aber nur zehn bis zwölf Stunden laufen würden.
Das Risiko, dass Naturkatastrophen auch AKW-Unfälle auslösen, sei nicht tragbar, kritisierte Greenpeace gestern. Die drei ältesten AKW Mühleberg und Beznau müssten vorläufig stillgelegt werden. Die Sicherheitsmängel seien zu beheben, «bevor ein Weiterbetrieb in Betracht gezogen wird».
… aber Fristen für Nachrüstung
Dieses Vorgehen zieht das Ensi nicht in Betracht — noch nicht. Vorläufig abschalten will die Atomaufsicht die AKWs aber, falls ihre Betreiber diese Nachweise nicht fristgerecht erbringen können: — Bis zum 30. Juni 2011 müssen sie nachweisen, dass ihre AKW ein Hochwasser überstehen würden, wie es einmal in 10'000 Jahren vorkommt. — Bis zum 31. März 2012 muss derselbe Nachweis für ein ebenso seltenes Erdbeben gelingen. Zum gleichen Zeitpunkt müssen die Betreiber nachweisen, dass ihre AKW auch die Kombination eines Erdbebens und des Bruchs der Staudämme von nahen Wasserkraftwerken meistern könnten.
Es muss ausgeschlossen werden können, dass bei solchen Katastrophen zu viel radioaktive Strahlung austritt. Gelingt der Nachweis für ein AKW nicht, wird das Ensi das Werk vorläufig abschalten. Der Betreiber könnte es zwar nachrüsten — bis dies erledigt wäre, bliebe das AKW aber abgeschaltet.