«Ge­schich­te ist im­mer eine Wunsch­ma­schi­ne»

TOP

Mit­tel­al­ter­hi­sto­ri­ker Va­len­tin Groeb­ner hat sich in sei­nem neue­sten Buch die Fi­gur von Wil­helm Tell vor­ge­nom­men — um an­hand von hi­sto­ri­schen Quel­len zu zei­gen, wie My­then ent­ste­hen.

TOP
Mit Valentin Groebner sprach Andreas Tobler
Groebner

«Auch Al­ba­ner sind über­zeugt, Nach­kom­men frei­heits­dur­sti­ger Berg­völ­ker zu sein», sagt Va­len­tin Groeb­ner.

Foto: Doris Fanconi

Groebner

«Auch Al­ba­ner sind über­zeugt, Nach­kom­men frei­heits­dur­sti­ger Berg­völ­ker zu sein», sagt Va­len­tin Groeb­ner.

Foto: Doris Fanconi

Groebner

«Auch Al­ba­ner sind über­zeugt, Nach­kom­men frei­heits­dur­sti­ger Berg­völ­ker zu sein», sagt Va­len­tin Groeb­ner.

Foto: Doris Fanconi

TOP

Wer von Wil­helm Tell er­zählt, «gibt vor al­lem über sich selbst und sei­ne drin­gend­sten Be­dürf­nis­se Aus­kunft», heisst es in Ih­rem neu­en Buch. Ha­ben Sie dar­über schon mit Chris­toph Blo­cher dis­ku­tiert?

Nein, und ich ha­be das auch nicht vor. Ich ha­be kein Be­dürf­nis, mit Po­li­ti­kern zu dis­ku­tie­ren. Ich bin Wis­sen­schaft­ler, das ist mein Job. Ich war aber sehr froh, dass Tho­mas Mais­sen und an­de­re His­to­ri­ker im ver­gan­ge­nen Jahr mit Chris­toph Blo­cher eine De­bat­te über die Schwei­zer Ge­schichts­my­then ge­führt ha­ben. Sie ha­ben das sehr gut ge­macht.

TOP

Tho­mas Mais­sen ist aber Spe­zia­list für die Frü­he Neu­zeit, al­so für die Jahr­hun­der­te nach den my­thi­schen Schlach­ten der Eid­ge­nos­sen. Sie sind einer der we­ni­gen Spe­zia­lis­ten des Schwei­zer Mit­tel­al­ters.

In der Ge­schichte des Schwei­zer Mit­tel­al­ters ken­nen sich eini­ge gut aus. Aber es stimmt schon, ich ha­be zwei­ein­halb Jah­re da­mit ver­bracht, für mei­ne Ha­bi­li­ta­ti­on in den Ar­chi­ven po­li­ti­sche Ak­ten, Rech­nungs­bü­cher und Brie­fe aus der Zeit von Ma­ri­gna­no zu le­sen. Die­se Quel­len spie­len in den öf­fent­li­chen Ge­schichts­de­bat­ten, wie wir sie jüngst er­leb­ten, über­haupt kei­ne Rol­le. Ich wür­de so­gar die Aus­sa­ge ris­kie­ren, dass die al­ler­meis­ten, die von den he­roi­schen Schlach­ten des Mit­tel­al­ters spre­chen, die Ori­gi­nal­do­ku­men­te noch nie in der Hand ge­hal­ten ha­ben. Und sie auch nicht le­sen kön­nen. Da­zu braucht man näm­lich eini­ge Mo­na­te Übung. Der eigent­li­che Ge­gen­stand der öf­fent­li­chen De­bat­ten um das Schwei­zer Mit­tel­al­ter ist denn auch wie­der­holt ein an­de­rer.

TOP

Um was geht es da?

Um die Wie­der­ge­win­nung einer rei­ne­ren Ver­gan­gen­heit. Die Ge­schich­te des 14. bis 16. Jahr­hun­derts wird von den Na­tio­nal­kon­ser­va­ti­ven so er­zählt, dass sie zu den ge­gen­wär­ti­gen po­li­ti­schen Be­dürf­nis­sen passt. Das ist an sich nichts Be­son­de­res. Fra­gen Sie mal Al­ba­ner, wie de­ren Mit­tel­al­ter­my­then aus­se­hen. Die sind eben­so über­zeugt, Nach­kom­men frei­heits­durs­ti­ger Berg­völ­ker zu sein wie die Ob­wald­ner. Mit der Wirk­lich­keit hat dies frei­lich we­nig zu tun. Aber Ge­schich­te ist im­mer eine Wunsch­ma­schi­ne. Ge­ra­de die des Mit­tel­al­ters.

TOP

Eine Wunsch­maschine?

Ja, Ge­schich­te kann die Funk­ti­on ha­ben, als eine Art Kom­pen­sa­ti­on für Krän­kun­gen zu die­nen, als Trost für einen ge­heim­nis­vol­len Ver­lust. Das zei­gen die wie­der­hol­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die hie­si­gen Ge­schichts­my­then. Und das in der Schweiz, einem der reich­sten Län­der der Welt. Das hat mich er­staunt und hört nicht auf, mich zu fas­zi­nie­ren.

TOP

Warum?

Weil ich dach­te, dass in der Schweiz das he­roi­sche Na­tio­nal­mit­tel­al­ter spä­tes­tens 1991 zu En­de ge­gan­gen ist — wie in den meis­ten an­de­ren Län­dern Mit­tel­euro­pas. In mei­nem Buch «Das Mit­tel­al­ter hört nicht auf» aus dem Jahr 2008 ver­tre­te ich die The­se, dass in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ein ra­di­ka­ler Wan­del ein­ge­tre­ten sei: Das Mit­tel­al­ter war nicht mehr kol­lek­ti­ver Ur­sprung, son­dern ein pit­to­res­kes Re­ser­voir für ver­schie­de­ne Be­dürf­nis­se — eso­te­ri­sche, tou­ri­sti­sche, ex­trem in­di­vi­du­el­le.

TOP

Die letz­ten Ge­schichts­de­bat­ten in der Schweiz wa­ren über­haupt nicht be­schau­lich. We­der je­ne um den Ber­gier-Be­richt noch die an­läss­lich von Mor­gar­ten und Ma­ri­gna­no.

Zuletzt hat mich das auch über­rascht, mit wel­cher Ver­ve eine sol­che De­bat­te ge­führt wer­den kann. Und wie die Dis­kus­si­on über das Mit­tel­al­ter plötz­lich wie­der ein Re­den über das po­li­ti­sche Kol­lek­tiv ge­wor­den ist, über ein «Wir». Da­bei wur­de deut­lich, dass vie­le ih­re na­tio­na­le Ver­gan­gen­heit als be­droh­tes Bio­top an­se­hen. Was vom Va­ter, in der Schu­le oder vom Pat­ron er­zählt wor­den ist, darf durch wis­sen­schaft­li­che Er­kennt­nis nicht re­la­ti­viert wer­den. Als Re­ak­ti­on auf das spä­te Um­schrei­ben der Schwei­zer Ge­schich­te im Zwei­ten Welt­krieg ist das ver­ständ­lich.

TOP

Valentin Groebner

Historiker

Va­len­tin Groeb­ner ge­hört zu den pro­fi­lier­tes­ten Mit­tel­al­ter­his­to­ri­kern: Der 53-jäh­ri­ge Öster­rei­cher, der seit 2004 an der Uni­ver­si­tät Lu­zern lehrt, ha­bi­li­tier­te mit einer Ar­beit über Kor­rup­ti­on in der Eid­ge­nos­sen­schaft um 1500. Pub­li­ka­tio­nen wie «Das Mit­tel­al­ter hört nicht auf», «Der Schein der Per­son» über die Ent­ste­hung von Rei­se­pass und Steck­brief so­wie eine Ge­schich­te des Ge­sichts («Ich-Pla­ka­te») sind bei C. H. Beck er­schie­nen. In seinem jüng­sten Buch, das mit Mi­cha­el Blat­ter ent­stand, be­schreibt Groeb­ner, wie Wil­helm Tell in­stru­men­ta­li­siert wur­de — von der ers­ten Er­wäh­nung im 15. Jahr­hun­dert bis zu den pa­läs­ti­nen­si­schen Ter­ro­ris­ten, die 1969 in Zü­rich ein El-Al-Flug­zeug be­schos­sen und sich auf Tell be­rie­fen.

(atob)

TOP

Was er­fah­re ich denn über die mit­tel­al­ter­li­che Schweiz, wenn ich Quel­len­stu­di­en be­trei­be?

Ziem­lich An­züg­li­ches. Und Schoc­kie­ren­des. Vie­le Do­ku­men­te aus der Zeit von Ma­ri­gna­no sind dras­tisch, zum Teil auch sehr obs­zön — je­den­falls nicht so be­schau­lich und pat­rio­tisch, wie man sich dies ger­ne vor­stellt. Die Eid­ge­nos­sen­schaft ist um 1500 kein Staat, son­dern im­mer noch ein re­la­tiv lo­ses Bünd­nis­ge­flecht, eine Art Agen­tur. Man kann sich die da­ma­li­ge Schweiz als eine Fi­fa zur Ver­mitt­lung von Söld­nern vor­stel­len, die mi­li­tä­ri­sche Dienst­leis­tun­gen an den­je­ni­gen lie­fert, der am meis­ten zahlt. Da­zu kom­men er­bit­ter­te in­ne­re Macht­käm­pfe, ab­rup­te Wech­sel der Auf­trag­ge­ber, ein­fluss­rei­che Lob­by­is­ten, Brief­kas­ten­fir­men und ver­deck­te Schmier­geld­zah­lun­gen in öf­fent­li­che und pri­va­te Kas­sen.

TOP

Das ist die Welt, in der die Schweiz er­ste Kon­tu­ren ge­winnt?

Ja, eine Welt der schmut­zi­gen Re­al­po­li­tik. Wenn man die Quel­len liest, dann klingt das mehr nach Bal­kan oder Kau­ka­sus in den 90­ern als nach ed­len, frei­heits­durs­ti­gen und selbst­ver­wal­ten­den Bau­ern. Die hat es so nie ge­ge­ben.

TOP

Die De­kon­struk­ti­on des My­thos scheint so et­was wie das Stec­ken­pferd der Hi­sto­ri­ker zu sein.

Histo­ri­ker sind von Be­rufs we­gen Spiel­ver­der­ber. Ich wer­de da­für be­zahlt, mög­lichst ge­nau her­aus­zu­ar­bei­ten, was in den his­to­ri­schen Quel­len drin­steht und was nicht. Wenn Sie zum Uro­lo­gen ge­hen, dann wer­den Sie ja auch ger­ne nach dem ak­tu­el­len Kennt­nis­stand des Fachs be­han­delt. Bei der Ge­schich­te des Schwei­zer Mit­tel­al­ters aber wird von den His­to­ri­kern ver­langt, dass sie im Na­men des ge­sun­den Volks­em­pfin­dens auf dem For­schungs­stand der 30er-Jah­re ver­har­ren. Und das kann es ja nicht sein. Ge­schichts­schrei­bung ist ein kon­trol­lier­tes Prü­fen von Hy­po­the­sen. Das ge­schieht kol­lek­tiv: Je­mand fin­det neue Quel­len, stellt al­te Les­ar­ten in­fra­ge, schlägt neue Er­klä­run­gen vor — dann fan­gen wir His­to­ri­ker­kol­le­gen an, das zu tes­ten und aus­ein­an­der­zu­neh­men.

TOP

Die his­to­ri­schen Quel­len zum Mit­tel­al­ter sind aber längst be­kannt.

Ja, vor al­lem je­ne des 14. Jahr­hun­derts. Für die Zeit um 1500 lie­gen aber noch vie­le Hun­der­te Re­gal­me­ter Ma­te­ri­al in den Ar­chi­ven. Und was steht denn ge­nau in den al­ten Tex­ten? In den 30er-Jah­ren pub­li­zier­te ein deut­scher His­to­ri­ker erst­mals die Be­obach­tung, dass die äl­tes­te Be­schrei­bung der Schlacht von Mor­gar­ten zu mehr als zwei Drit­teln aus dem Al­ten Tes­ta­ment ab­ge­schrie­ben ist. Die Schwy­zer er­hal­ten da­bei die Rol­le des Vol­kes Is­ra­el. Dar­an kann man zei­gen, wie das Er­zäh­len von Ver­gan­gen­heit die je­wei­li­gen ak­tu­el­len po­li­ti­schen Zu­stän­de recht­fer­ti­gen soll. Die­ses Phä­no­men ist in­zwi­schen gut er­forscht: Je wei­ter eine Schlacht zeit­lich von dem Chro­nis­ten ent­fernt ist, um­so aus­führ­li­cher wird sie be­schrie­ben.

TOP

Histo­ri­ker un­ter­su­chen al­so, was im his­to­ri­schen Rück­spie­gel ge­se­hen wird.

Ge­nau, als His­to­ri­ker un­ter­su­chen wir die Post­pro­duk­ti­on von Ge­schich­te. Wir stel­len die Fra­ge, wer wann was zu wel­chem Zweck nach­er­zählt hat. Im neu­en Buch, das ich mit Mi­cha­el Blat­ter ge­schrie­ben ha­be, kön­nen wir zei­gen, wie Wil­helm Tell erst­mals in den Quel­len auf­taucht, um ein kon­kre­tes Prob­lem zu lö­sen: Im Som­mer 1469 ver­hängt Kai­ser Fried­rich Ⅲ. über die Eid­ge­nos­sen die Reichs­acht. In die­ser Zeit legt ein Ob­wald­ner Land­schrei­ber ein Ko­pi­al­buch an, das wir heu­te als «Weis­ses Buch von Sar­nen» ken­nen. Dar­in wird al­les ge­sam­melt, um die Il­le­gi­ti­mi­tät der habs­bur­gi­schen An­sprü­che zu be­wei­sen. Und dar­in fin­det sich auch erst­mals in den his­to­ri­schen Quel­len der Schweiz die Ge­schich­te von Tell, der sich ge­gen die habs­bur­gi­schen Vög­te auf­lehnt.

TOP

Aber war­um heu­te ein Buch über Wil­helm Tell?

Tell hat mit einer Ge­gen­wart zu tun, die sich ge­ra­de jetzt in Ge­schich­te ver­wan­delt. Un­ser Buch en­det mit der 1.-Mai-De­mon­stra­ti­on von 1970, wo eine Ab­tei­lung der Neu­en Lin­ken un­ter einem Trans­pa­rent mar­schiert, auf dem rechts die «Frei­heit» von De­la­croix mit nack­tem Bu­sen zu se­hen ist, links Wil­helm Tell mit Arm­brust — und in der Mit­te Ho Chi Minh.

TOP

Es gibt al­so auch eine lin­ke In­stru­men­ta­li­sie­rung der Ver­gan­gen­heit.

Selbst­ver­ständ­lich. Das «Wir im Mit­tel­al­ter» ist ein Ste­reo­typ, das al­len zur Ver­fü­gung steht und im 19. und 20. Jahr­hun­dert auch von Pro­test­be­we­gun­gen ge­nutzt wur­de. Es gibt His­to­ri­ker, die den Ur­sprung der Ge­werk­schaf­ten und der Ar­bei­ter­rech­te in den mit­tel­al­ter­li­chen Ge­nos­sen­schaf­ten ge­sucht und ge­fun­den ha­ben. Ver­gan­gen­heit wird im­mer wie­der neu her­auf­be­schwo­ren — mit ähn­li­chen Ge­schich­ten, de­nen neue Be­deu­tun­gen ge­ge­ben wer­den.

TOP

Was wir im his­to­ri­schen Rück­spiegel se­hen, ist al­so von den Zeit­läu­fen ge­prägt. Auch für Sie?

Für wen nicht? Im Nach­hin­ein sieht die Ver­gan­gen­heit an­ders aus. Plötz­lich sieht man auf al­ten Fo­tos Din­ge, die wa­ren schon im­mer da, aber sie se­hen an­ders aus. Das ist ir­ri­tie­rend und fas­zi­nie­rend. Als His­to­ri­ker steckt man auf der einen Sei­te in der Ge­schich­te drin, zum an­de­ren zwingt einen die wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­plin da­zu, dies für an­de­re nach­voll­zieh­bar zu ma­chen. Es gibt zu­dem ein wun­der­ba­res rus­si­sches Sprich­wort: Die Ver­gan­gen­heit ist un­vor­her­seh­bar. Des­halb geht uns Mit­tel­al­ter­his­to­ri­kern auch nicht die Ar­beit aus.


Va­len­tin Groeb­ner/Mi­cha­el Blat­ter:
Wil­helm Tell, Im­port — Ex­port. Ein Held un­ter­wegs. Hier + Jetzt, Ba­den 2016. 160 S., ca. 29 Fr.

⋆ ⋆ ⋆