Schweizer Städten fehlen Hunderte Millionen Franken
Zürich, Bern, Genf rechnen mit Defiziten — jetzt drohen Steuererhöhungen
VON MARTINA WACKER UND SIMON WIDMER
ZÜRICH —
Schweizer Städte geraten in Finanznot: Die Mehrheit
der grossen Zentren rechnet für das Jahr 2014 mit einem Defizit,
darunter Zürich, Bern, Genf, Biel und Lugano. Die Winterthurer
Stadtregierung hat bereits eine Erhöhung des Steuerfusses beantragt. Und
auch in anderen Städten drohen Steuererhöhungen, wie eine Umfrage der
SonntagsZeitung zeigt.
Nachdem die Zentren in den letzten Jahren die Steuerlast stets
gesenkt haben, sieht Professor Urs Müller von der Uni Basel eine
Trendwende: «Steuererhöhungen sind kein Tabu mehr», sagt er. Grund sei
die zunehmende Belastung bei Sozialhilfeleistungen, der Schulbildung und
im öffentlichen Verkehr. Städteverbands-Präsident Kurt Fluri befürchtet
zudem, dass viele Städte den Gürtel enger schnallen müssen. Betroffen
seien vor allem die Bereiche Sport, Kultur und Freizeit. Auch bei der
Bildung sei mit Sparübungen zu rechnen. Mit der Unternehmenssteuerreform
Ⅲ droht weiteres Ungemach: Der Städteverband schätzt, dass diese zu
Ausfällen von mehr als 1,5 Milliarden Franken führen wird. Die Städte
wurden aber dazu nicht konsultiert. Parlamentarier fordern jetzt
Auskunft vom Bundesrat.
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BERN —
Die finanzielle Lage in den Städten verschlechtert
sich rapide. Wie eine Umfrage der SonntagsZeitung zeigt, rechnet die
Mehrzahl der grossen Schweizer Zentren für 2014 mit einem Defizit. Für
die Experten ist klar: Jetzt drohen Steuererhöhungen.
Urs Müller, Professor für
Nationalökonomie an der Universität
Basel, sagt: «Der Grund für die Defizite liegt vor allem in den
steigenden Ausgaben für Sozialhilfeleistungen,
den öffentlichen Verkehr
und die Schulbildung.» Müller leitet das
Sparprogramm «Aufgaben- und
Strukturüberprüfung» (ASP 2014) des Kantons
Bern und unterstützt die
Stadt Biel bei der Sanierung ihrer Stadtkasse. Für die Zukunft sei denn
auch keine Entspannung in Sicht. «Der Verkehr und die Nachfrage nach
Schulbildung wird unter anderem aufgrund der Zuwanderung weiter
zunehmen. Und die Ausgaben für Sozialhilfe
leistungen sind primär von der
konjunkturellen Entwicklung abhängig», sagt er.
Davon betroffen seien
nicht nur die grossen, sondern auch immer mehr kleinere Städte.
Da die Städte diese Faktoren kaum
beeinflussen können, zeichne
sich eine klare Trendwende ab: «Steuererhöhungen
sind kein Tabu mehr»,
so Müller. Gleich mehrere Kantone und
Städte würden derzeit über
Steuererhöhungen diskutieren.
Städteverbandspräsident Kurt Fluri (FDP)
stösst ins gleiche Horn. Er erwartet Steuererhöhungen
— und befürchtet,
dass viele Städte den Gürtel enger
schnallen müssen: Betroffen seien vor
allem die Bereiche Sport, Kultur und Freizeit,
und auch bei der Bildung
müssten sich einige Städte auf Sparübungen
einstellen (siehe Interview
unten) .
Winterthur hat die Steuererhöhung beantragt
Das bisher grösste Defizit für 2014
verkündete vergangene Woche
die Stadt Zürich mit 213,8 Millionen Franken.
Zudem rechnet die Stadt
damit, dass der Verlust in den drei Folgejahren
weiter ansteigt, womit
das Eigenkapital bis spätestens 2016
aufgebraucht wäre. Gegensteuer soll
das im Herbst 2012 lancierte Projekt «17/0,
Leistungsüberprüfung»
geben. Damit will der Stadtrat erreichen, dass ab dem Jahr 2017 die
Rechnung wieder ausgeglichen ist.
Laut Mitteilung soll eine grosse
Bandbreite von Leistungen überprüft werden.
Unangetastet bleibt hingegen
der Steuerfuss von 119 Prozent.
Allerdings hält Finanzvorsteher
Daniel Leupi (Grüne) gegenüber der
SonntagsZeitung fest, dass bei unvermindert
schlechter Finanzlage diese
Massnahme für die Zukunft zu prüfen sei.
Kein Tabu ist eine Steuererhöhung
hingegen in Winterthur. Der
Stadt fehlen aktuell 62 Millionen Franken.
Nebst dem seit Januar
laufenden Sparprogramm «effort 14+»,
welches «langfristig gesunde
Stadtfinanzen zum Ziel hat», beantragt der Stadtrat beim Parlament die
Erhöhung des Steuerfusses von 122 auf 127 Prozent. Damit hätte
Winterthur den höchsten Steuerfuss des Kantons. Auch in Lugano und in
Biel drohen Steuererhöhungen. Letztere Stadt gilt als Hochburg der
Sozialhilfeempfänger. Biel beantragt,
die Steuern mit dem Budget 2014 um
zwei Zehntel zu erhöhen. Lugano rechnet für das Jahr 2014 mit tiefroten
Zahlen und will rund 5 Prozent mehr Steuern abschöpfen.
Nicht rosig sieht die Zukunft auch in Bern und in Genf aus.
Budgetierten sie für 2013 noch eine schwarze Null,
rechnen sie für 2014
mit einem Fehlbetrag. Demgegenüber
prognostiziert Basel-Stadt, dessen
Budget sich auf den gesamten Kanton bezieht, erneut einen
Ertragsüberschuss. Mit der geplanten
Unternehmenssteuerreform Ⅲ drohen
dem Kanton allerdings erhebliche
Steuerausfälle (siehe Artikel unten) .
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Es drohen weitere Ausfälle von 1,5 Milliarden Franken
Der Bund soll für die Defizite der Städte aus der Unternehmenssteuerreform Ⅲ einspringen
S. WIDMER UND M. WACKER
BERN —
Die Unternehmenssteuerreform Ⅲ droht ein noch
grösseres Loch in das Finanzbudget der Städte zu reissen. Mit der
angedachten Mega-Reform sollen in und ausländische Erträge auf Druck der
EU künftig gleich besteuert werden. Bisher privilegierte Firmen, die von
tiefen Gewinnsteuersätzen auf ausländischen Erträgen profitieren,
könnten deshalb die Schweiz verlassen.
Um dies zu verhindern, plant das Finanzdepartement, die
kantonalen Gewinnsteuersätze, die auch für Städte und Gemeinden
verbindlich sind, zu senken. Das würde vor allem die Städte stark
treffen, da der Anteil an juristischen Personen hier besonders hoch ist.
Der Kanton Basel-Stadt (inklusive Stadt Basel) schätzt den Verlust auf
400 Millionen, die Stadt Zürich auf 300 Millionen Franken. Insgesamt
rechnet der Städteverband mit Steuerausfällen von über 1,5 Milliarden
Franken. Bislang wurden die Städte im politischen Prozess
ausgeschlossen. Sie machen deshalb geltend, dass der Bund gegen die
Verfassung verstösst (siehe Interview).
«Einmal mehr müssen die Städte bluten»
Zudem fordern sie, dass der Bund ihnen finanziell unter die Arme
greift. Die Winterthurer Finanzdirektorin Yvonne Beutler sagt: «Es kann
nicht sein, dass Winterthur und weitere Städte aufgrund einer
Gesetzesänderung auf Bundesebene einmal mehr bluten müssen. Eine
Kompensation der Ausfälle ist deshalb unabdingbar.» Ihr Berner Kollege
Alexandre Schmidt bringt die Idee ins Spiel, den Anteil der Kantone am
Steuerertrag aus der direkten Bundessteuer zu erhöhen. Die Kantone
müssten den Betrag anteilsmässig an die Gemeinden weiterreichen.
Auch die eidgenössischen Parlamentarier machen mit Vorstössen
Druck: Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP), Barbara Gysi
(SP, SG) und Daniel Vischer (Grüne, ZH) möchten vom Bundesrat wissen,
wie er die Steuerausfälle zu kompensieren gedenkt. Hannes Germann (SVP,
SH) und Städteverbandspräsident Kurt Fluri (FDP, SO) verlangen vom Bund
eine Evaluation von Artikel 50 der Bundesverfassung. In diesem ist
festgehalten, dass der Bund die Anliegen der Städte berücksichtigt.
FOTOS: KEY (4), CLAUDE GIGER (1)
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«Kantone schauen für sich selber»
Kurt Fluri über das Ringen der Städte um mehr politisches Gewicht
INTERVIEW: SIMON WIDMER
Das Finanzdepartement sagt, dass durch den Einbezug der
Kantone auch sichergestellt sei, dass die Interessen der Städte und
Gemeinden berücksichtigt seien.
Das ist ein Witz. Die Erfahrung zeigt, dass die Kantone in erster
Linie für sich selber schauen. In der Bundesverfassung ist in Artikel
50 festgehalten, dass der Bund die Interessen von Städten und
Agglomerationen berücksichtigen muss. Ständerat Hannes Germann und ich
haben deshalb in der Herbstsession Vorstösse eingereicht, um zu
evaluieren, ob der Bund sich an Artikel 50 der Bundesverfassung hält.
Der Städteverband fordert, dass der Bund die Steuerausfälle kompensieren soll.
Haben Sie konkrete Ideen?
Ich bin vorsichtig, jetzt schon konkrete Vorschläge zu
formulieren. Wir wurden ja bislang zu dieser Frage gar nicht
konsultiert. Was ich aber jetzt schon sagen kann: Die
Unternehmenssteuerreform Ⅲ wird wahrscheinlich vor der Urne landen. Es
wäre für den Bund gut, er würde sich die Städte in dieser Sache nicht
zum Gegner machen.
Zürich rechnet für das Jahr 2014 mit einem Defizit von 214
Millionen Franken. Auch andere Städte budgetieren mit roten Zahlen.
Kommen die Finanzen der Städte zunehmend unter Druck?
Ja, das ist ein Trend. Viele Städte hatten in den letzten Jahren
die Steuern gesenkt. Jetzt können sie die steigenden Ausgaben und die
notwendigen Investitionen zum Teil nicht mehr selber tragen. Eine
Defizitperiode in vielen Städten ist wahrscheinlich.
Ökonomieprofessor Urs Müller sagt, dass die Städte nicht
darum herumkommen werden, die Steuern zu erhöhen.
Wie sehen Sie das?
Es ist anzunehmen, dass einige Städte jetzt die Steuern erhöhen
müssen. Andere werden das nicht können und sich verschulden müssen.
Ansonsten haben die Städte wenig Spielraum, ihre Ausgaben zu senken.
In welchen Bereichen können die Städte denn sparen?
Möglich sind Einsparungen in den Bereichen Sport, Kultur,
Freizeit, eventuell auch Bildung. Oft greifen die Städte bei Sparübungen
auf Notlösungen zurück, sie schieben etwa Investitionen in die
Infrastruktur hinaus. Das ist aber verheerend.
Der Bund gleist zurzeit die Unternehmenssteuerreform Ⅲ auf.
Was bedeutet diese für die Städte?
Die Städte riskieren den Verlust von gegen der Hälfte ihrer
Steuereinnahmen von juristischen Personen. Trotzdem wurden die Städte
bislang im politischen Prozess übergangen. Das geht nicht.