|
Es ist der zentrale Streitpunkt im Abstimmungskampf: Führt der Bau einer zweiten Gotthardröhre faktisch zu einer Kapazitätserweiterung? Das Uvek, das Departement von Verkehrsministerin Doris Leuthard (CVP), bestreitet dies vehement: Auch wenn zwei Tunnels gebaut seien, stehe weiterhin nur je eine Fahrspur pro Richtung zur Verfügung; dieser Grundsatz werde ins Gesetz geschrieben, der Alpenschutzartikel in der Verfassung bleibe gewahrt. Vor zwei Jahren hat Leuthard die Ständeräte gemäss amtlichem Bulletin wissen lassen: «Wer mehr will, wer einen Vollausbau will, wer die gesamten vorhandenen Flächen nutzen will, der muss die Bundesverfassung ändern.»
Diese Aussage gibt zu reden. Alain Griffel, Staatsrechtler an der Universität Zürich, hält sie zwar nicht für falsch, aber für «hochgradig missverständlich». Griffel ist überzeugt, dass sie auch falsch verstanden wurde, nämlich wie folgt: Eine Verfassungsänderung bedeute eine obligatorische Abstimmung von Volk und Ständen, also sei ein Betrieb mit vier Spuren ohne vorgängige Volksabstimmung rechtlich nicht möglich.
Korrekt formuliert müsste es laut Griffel jedoch heissen: «Die Verfassung müsste geändert werden.» Aber es gehe rechtlich auch ohne, sagt der Experte. Seine Überlegung: Bundesgesetze sind in der Schweiz laut Verfassung «massgebend», sie sind somit auch dann anzuwenden, wenn sie gegen die an sich höherrangige Verfassung verstossen — auch vom Bundesgericht. Die geplante Gesetzesänderung, die den zweispurigen Betrieb verankert, wird laut Griffel somit zum Steigbügel für den späteren zweiten Schritt: Nach der Eröffnung der zweiten Tunnelröhre kann jedes Parlamentsmitglied eine parlamentarische Initiative zur Änderung oder Ergänzung des Gesetzes einreichen — mit dem Ziel, alle vier Spuren zu öffnen. In der Folge müssten nur noch der National- und der Ständerat der Änderung zustimmen. «Diese würde dann gelten, Alpenschutzartikel hin oder her», sagt Griffel. Für ihn ist klar: «Diese Forderung wird kommen, spätestens nach dem zweiten Osterstau.» Unklar ist, ob Leuthard 2014 aus taktischen Gründen von «muss» statt von «müsste» gesprochen hat. Das Uvek geht auf Anfrage des TA nicht direkt darauf ein. Stattdessen weist es darauf hin, Griffels Kritik sei ihm bekannt und enthalte keine neuen Überlegungen. Die Bevölkerung, so argumentiert das Uvek, wäre im geschilderten Fall nicht machtlos, sondern könnte gegen die beschriebene Gesetzesänderung auf politischem Weg vorgehen — via Referendum.
Griffel fragt jedoch rhetorisch: «Wie wären wohl die Erfolgsaussichten in einer Abstimmung, wenn die beiden Tunnel mit insgesamt vier Spuren gebaut sind?» Griffel zweifelt gar daran, dass in einem solchen Fall überhaupt jemand das Referendum ergreifen würde. Einig geht das Uvek mit Griffel im Punkt, wonach die Bundesverfassung das Bundesgericht dazu zwingt, Bundesgesetze im Einzelfall anzuwenden. Sie verbiete den Richtern in Lausanne aber nicht, eine Überprüfung der Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung vorzunehmen und so eine allfällige Verfassungswidrigkeit festzustellen, gibt das Verkehrsdepartement zu bedenken. Griffel bestreitet dies nicht. Allerdings müsse das Bundesgericht ein Gesetz eben auch genau dann anwenden, wenn es seine Verfassungswidrigkeit festgestellt habe, sagt er. Eine Ausnahme hat sich in der Praxis laut Griffel nur herausgebildet, wenn ein Bundesgesetz gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstosse. Doch dies sei hier nicht der Fall.
* * *
|
Es war der Aufruf, Klartext zu sprechen. Giorgio Tuti, Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV), hatte die Führungscrew der SBB Anfang Januar aufgefordert, sich im Hinblick auf den 28. Februar klar zu positionieren. «Die SBB würden von der Verlagerungslösung ohne zweiten Strassentunnel profitieren, und das sollen sie auch sagen.»
Die SBB-Spitze äussert sich nun — aber nicht im Sinne Tutis. Die SBB halten eine zweite Röhre für «vertretbar», sofern damit nicht die Kapazität für den Strassenverkehr erhöht wird, schreibt Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi auf Anfrage. Er wiederholt damit im Kern die Aussage einer SBB-Sprecherin, die der «SonntagsBlick» am 3. Januar unter dem Titel «SBB für zweite Gotthardröhre» publiziert und damit einigen Wirbel ausgelöst hatte. Die SBB als Abstimmungskämpferin? So wollten sich die Bundesbahnen nicht tituliert sehen: Man beurteile die Vorlage nur aus operativer Sicht. Welche Vorteile ein zweiter Strassentunnel für sie hätte, erläuterten die SBB indes nicht. Auch Gygi tut dies nicht.
In Bahnkreisen ist man sich ziemlich einig: Die SBB tun sich mit ihrer Haltung schwer, weil die Unternehmens- und Eigentümerinteressen in der Gotthardfrage divergieren. So gehören die SBB dem Bund - und dieser spricht sich in der Gestalt von Bundesrat und Parlament für die zweite Röhre aus. Der Verein Alpeninitiative mutmasst gar, Doris Leuthard (CVP) habe den SBB den Positionsbezug aufgezwungen — was ihr Departement, das Uvek, bestreitet.
Tatsache ist: Der SBB-Verwaltungsrat ist gespalten. Mitglied Andrea Hämmerle votiert gegen eine zweite Röhre, wie er auf Anfrage sagt. Der Alt-SP-Nationalrat betont, er äussere sich als langjähriger Alpenschützer und freier Bürger. «Das Projekt erweitert die Transitstrassenkapazität und widerspricht damit dem Alpenschutzartikel in der Verfassung», sagt er in maximalem Kontrast zur bundesrätlichen Einschätzung. Sollten dereinst — entgegen der Zusicherung der Landesregierung — vier Spuren in Betrieb gehen, hätte dies laut Hämmerle «selbstredend negative Auswirkungen auf das SBB-Geschäft», sprich: die SBB-Angebote im Personen- und Güterverkehr. Bei nur zwei geöffneten Spuren wären die Folgen «weniger gravierend». Präziser wird Hämmerle nicht; stattdessen fragt er: «Wie lange bleiben vorhandene Spuren ungenutzt?» Zur Haltung des Verwaltungsrats äussert sich Hämmerle nicht. Er kritisiert das neunköpfige Gremium nicht - er verteidigt es aber auch nicht.
* * *
|
Logik geht so: Zuerst ist da ein Problem, dann findet man die Mittel, um es zu lösen. Es muss einen stutzig machen, wenn diese Kausalkette auf einmal umgedreht wird.
Seit den 90er Jahren arbeiten das Transportgewerbe und sein politischer Anhang auf einen zweiten Strassentunnel am Gotthard hin. Im Jahr 2004 sagte das Volk bei der Avanti-Abstimmung ein erstes Mal Nein, am kommenden 28. Februar stimmen wir erneut darüber ab. Der Wunschtraum ist derselbe geblieben, gewechselt hat die Begründung. Vor zwölf Jahren noch wollte man primär ein Nadelöhr auf der Nord-Süd-Achse beseitigen. Jetzt soll die zweite Röhre ein «Sanierungstunnel» sein, der den Verkehrsfluss gewährleistet, wenn der alte, bestehende Tunnel renoviert wird.
Doch es geht immer noch um das gleiche Bauwerk, und so haben auch die Argumente dagegen nach wie vor Gültigkeit. Ein Vergleich lohnt sich. Schon bei Avanti beteuerten die Befürworter, man halte am Ziel fest, den Schwerverkehr auf die Schiene zu verlagern. Nur wenn der Alpenschutzauftrag erfüllt werde, sei der Bau der zweiten Röhre erlaubt, hiess es damals. Bei der aktuellen Neuauflage wurde nun ein Gesetzesartikel konstruiert, der nach der Sanierung nur eine Fahrspur pro Tunnel offen liesse. Die Strassenkapazität nehme also nicht zu, wird diesmal argumentiert. Gemeinsam ist beiden Argumentationen, dass die verkehrs- und umweltpolitische Gefährlichkeit eines gigantischen Bauvorhabens mit einem Paragrafen auf Papier entschärft werden soll. Bei Avanti war immerhin noch eine Verfassungsregel geplant. Diesmal soll schon die Gesetzesstufe ausreichen.
Und das ist das Hauptproblem dieser «Sanierungsvorlage», wie sie von den Behörden verwedelnd genannt wird: Wenn man den Alpenschutzartikel in der Verfassung befürwortet, gibt es für die zweite Röhre schlicht zu wenig Gründe. Natürlich, die Sicherheit für die Autofahrer stiege ein bisschen. Aber rechtfertigt dies die Gefährdung von 20 Jahren Verkehrspolitik? Zahllos und stark sind die Kräfte, die sich (heimlich) vier Spuren am Gotthard wünschen, in der Schweiz und in der EU. Man geht kein Risiko ein mit der Prognose, dass diese Kräfte nach dem Bau der zweiten Röhre aktiv werden. Ein Sätzchen im Gesetz umzuschreiben: Das muss ihnen gelingen, dann sind sie am Ziel.
Es gibt zu wenig gute Gründe für ein Ja: Seit November gilt dieser Befund noch verstärkt. Seit dann kennen wir nämlich den Bericht des zuständigen Bundesamts, wonach der Gotthardtunnel in besserem Zustand ist als bis dato vermittelt. Warum sich also nicht die Zeit nehmen, eine klug etappierte Sanierung zu planen, die möglichst ohne Vollsperre auskommt (und damit ohne Isolation des Leventinatals)?
Zu wenig gute Gründe für ein Ja hat auch, wer für seine eigene verkehrsgeplagte Region auf Geld vom Bund hofft. Mit zwei Milliarden Franken würde die zweite Gotthardröhre zu Buche schlagen — eine ungeheure Summe für ein «Sanierungsprojekt», wobei nach der Fertigstellung noch Unterhaltskosten von jährlich 30 Millionen hinzukommen.
Während der Bundesrat laufend alarmistischer vor nahenden Defiziten in der Staatskasse warnt, soll am Gotthard Klotzen statt Kleckern angesagt sein. Zwar gibt es auch die Alternativen nicht umsonst. Doch Verladestationen für den Auto- und LKW-Transport unter dem Berg hindurch sind immerhin wohl eine Milliarde Franken günstiger. Der Differenzbetrag wird für Verkehrsprojekte im Mittelland entweder zur Verfügung stehen oder eben nicht.
Diese Argumente leuchten auch der Bevölkerung ein, wenn man den Umfragen glauben darf. Vor allem rechnet demnach eine Mehrheit fest damit, dass bei einem Ja nach der Sanierung alle vier Spuren freigegeben würden. Umso verstörender ist, dass der Vorlage derzeit trotzdem eine komfortable Mehrheit vorausgesagt wird. Die Leute glauben den Gegnern und stimmen mit den Befürwortern: In dieser Kombination könnte das nur heissen, dass der Alpenschutz das Volk mittlerweile kühl lässt. Sollte die Verlagerungspolitik politisch nicht mehr abgestützt sein, kommt irgendwann die Zeit, sich von ihr offiziell zu verabschieden. So gesehen ist das Plebiszit zu begrüssen, weil es etwas Klarheit bringt. Auch wenn bei einem Ja die Festgemeinde, die im Sommer zur Eröffnung des Neat-Bahntunnels geladen ist, irgendwie lächerlich wirken wird.
* * *
Powered by | Stand: 15. Februar 2016 | © Tages Anzeiger |