Bern — In mehreren grossen Bahnhöfen verschieben die SBB die bedienten Schalter an den Rand. Damit verbunden ist ein Leistungsabbau im Kerngeschäft, zum Ärger vieler Kunden.
Beispiel Luzern: Der Bahnhof war einst Vorbild einer klugen Lenkung der Fussgängerströme. Die Architekten planten das Gebäude so, dass die Bahnkunden auf dem Weg zu den Zügen die Billettschalter entweder automatisch passierten. Oder sie konnten, wenn sie ebenerdig den Bahnhof betraten, die Schalter im Untergeschoss sofort sehen und leicht finden.
Dieses kundenfreundliche Konzept der Bedienung am zentralen Dreh- und Angelpunkt der Bahnhofhalle ist seit Anfang Jahr Vergangenheit. Anstelle der SBB-Schalter reihen sich jetzt entlang der attraktiven Passantenlage Geschäfte wie H & M, Calida, The Body Shop und Mobilezone. Reisende, die weiterhin an einen bedienten SBB-Schalter möchten, müssen sich gut umsehen. Unauffällige Schildchen weisen zwei Stockwerke höher in die hinterste Ecke des Obergeschosses. Dort befindet sich das neue Reisezentrum der SBB mit seinen fünfzehn bedienten Schaltern.
Den Rückzug in den versteckten, von unten kaum einsehbaren Winkel begründet SBB-Sprecher Daniele Pallecchi mit dem technischen und gesellschaftlichen Wandel. «Vier von fünf Kunden lösen heute das Billett am Automaten oder via Smartphone, Telefon oder Internet. Damit entfällt der Gang an den Schalter.» Zudem könnten die Kunden jetzt «bei Tageslicht bedient werden, was im Untergeschoss nicht der Fall war».
Karin Blättler, Präsidentin der Kundenorganisation Pro Bahn Zentralschweiz, kann solchen Argumenten nichts abgewinnen. Die SBB-Verantwortlichen würden ausblenden, dass der Wunsch nach bedienten Schaltern bei den Bahnkunden weiterhin sehr gross sei. «Beim Umzug in die hinterste Ecke werden die Bedürfnisse der Kunden ignoriert, der Service public bleibt auf der Strecke.» Ein entrüsteter Bahnkunde meint: «Die Massnahme zeigt einmal mehr, dass wir für die SBB nur noch Störfaktoren sind, die dumme Fragen stellen und Kosten verursachen.» SBB-Sprecher Pallecchi spielt den Ball zurück und sagt: «Letztlich entscheidet die Kundin oder der Kunde, welche Dienstleistungen an einem Bahnhof am stärksten nachgefragt sind.»
Tatsache ist, dass die SBB mit der Digitalisierung nicht mehr zwingend die besten Lagen in den eigenen Bahnhöfen selber besetzen müssen. Die frei werdenden Flächen lassen sich dann dem Meistbietenden teuer vermieten. Damit verwandelt sich der Bahnhof in ein Shoppingcenter, und zwar nicht nur in Luzern.
Beispiel Solothurn: Die Halle beim Hauptportal besetzen Cafés, Läden und Boutiquen, der Billettschalter ist in einen Seitenflügel verbannt. Nach diesem Muster sind auch die Bahnhöfe in Winterthur, St.Gallen, Biel, Lugano und in weiteren Städten der Deutsch- und Westschweiz umgenutzt worden. Wie viele es genau sind, verrät SBB-Sprecher Pallecchi nicht. «Unsere Bahnhöfe befinden sich schweizweit in einem steten Wandel», sagt er einzig.
Wirtschaftlich ist die Strategie der SBB nachvollziehbar. Die Erträge aus vermieteten Immobilien steigen laufend, seit 2005 um 43 Prozent, auf 433 Millionen Franken im letzten Jahr. Die Immobiliensparte erwirtschaftet zwar nur 5 Prozent des Umsatzes. Doch sie ist, im Gegensatz zum Kerngeschäft der Bahn, hochprofitabel: Allein im ersten Halbjahr erzielte sie einen Gewinn von 173 Millionen Franken, während der Gewinn des gesamten Konzerns nur 72 Millionen betrug. «Die Dritteinnahmen aus der Vermietung von Bahnhofflächen entlasten die Rechnung der SBB, kommen dem System Bahn zugute und reduzieren die Belastung des Steuerzahlers», so Pallecchi. Die SBB verwenden den grössten Teil des Immobiliengewinns zur Sanierung der Pensionskasse und zur Finanzierung ihrer Infrastruktur.
Die Zahlen sprechen also für sich, doch für das Image ist der Rückzug der SBB in Seitenflügel und hintere Ecken problematisch. Die Präsenz der Billettschalter im Zentrum der Bahnhöfe ist jedenfalls vielerorts passé. Umso auffälliger leuchten nun, so in der Bahnhofhalle Luzern, die roten Logos von H & M. Als ob der schwedische Kleiderkonzern nicht nur Platzhirsch, sondern auch Hausherr geworden wäre. «Gut, dass es noch Gleise und Züge gibt, die auf einen Bahnhof hinweisen», sagt Karin Blättler von Pro Bahn.
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