Daniel Binswanger DANIEL BINS­WANGER
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DANIEL BINS­WANGER
Zehn Jahre nach der Finanz­krise

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Ver­sail­les oder Bret­ton Woods? Das ist die Fra­ge, die Ta­mim Ba­you­mi in «Un­fi­ni­shed Bu­si­ness» stellt, einem Buch, das pünkt­lich zum zehn­jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um der Fi­nanz­kri­se pu­bli­ziert wur­de. Es ist nicht das er­ste, aber ein be­son­ders tief­grün­di­ges Auf­ar­bei­tungs­werk. Ba­you­mi ana­ly­siert die struk­tu­rel­len Grün­de für die Kri­se und stellt die Fra­ge, ob die seit­he­ri­gen Re­form­an­stren­gun­gen An­lass zur Hoff­nung ge­ben, dass sie sich nicht wie­der­holt. Er ent­wic­kelt die The­se, dass die Fi­nanz­kri­se von weit zu­rück­rei­chen­den Fehl­ent­wick­lun­gen aus­ge­löst wur­de, ähn­lich wie der Er­ste Welt­krieg, der nicht nur von kriegs­lü­ster­nen Ge­ne­rä­len, son­dern von Un­gleich­ge­wich­ten im euro­päi­schen Staa­ten­sys­tem pro­vo­ziert wur­de.

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Nach der Jahr­hun­dert­ka­ta­stro­phe des Er­sten Welt­krie­ges wur­de mit den Ver­trä­gen von Ver­sail­les ver­sucht, Euro­pa zu be­frie­den — mit dem be­kann­ten Er­geb­nis. Bis er­neut ein trag­fä­hi­ges Mäch­te­sys­tem ge­schaf­fen wer­den konn­te, muss­te die Welt durch einen noch ver­hee­ren­de­ren Welt­krieg ge­hen. Die Grund­la­gen für eine neue Frie­dens­ord­nung wur­den erst 1944 in Bret­ton Woods ge­schaf­fen. Nach Ba­you­mi ist nicht aus­zu­schlies­sen, dass auch die heu­ti­gen Be­mü­hun­gen, das Fi­nanz­sys­tem zu si­chern, le­dig­lich die Vor­aus­set­zun­gen für eine noch viel hef­ti­ge­re Kri­se schaf­fen. Ver­sail­les oder Bret­ton Woods? Die Fra­ge bleibt am En­de of­fen.

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Ba­you­mi ist Ex­per­te für Wäh­rungs­sys­te­me und hat eine dreis­sig­jäh­ri­ge Kar­rie­re beim IWF hin­ter sich. Er ver­bin­det eine in­ti­me Kennt­nis der De­tails der Fi­nanz­markt­re­gu­lie­rung mit einem schar­fen Blick für das gros­se Gan­ze. Er re­det nur von der «nord­at­lan­ti­schen Fi­nanz­kri­se»: Aus sei­ner Sicht wa­ren es Fehl­ent­wick­lun­gen im ame­ri­ka­ni­schen und im euro­päi­schen Ban­ken­sys­tem, die erst die Sub­pri­me- und dann die Euro­kri­se aus­lös­ten. So­wohl in den USA als auch in Euro­pa wur­den lan­ge vor dem Aus­bruch der Kri­se schwe­re Feh­ler ge­macht.

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In den USA dul­de­te man die Ent­ste­hung eines Schat­ten­ban­ken­sys­tems, das da­durch Schub be­kam, dass die Ge­schäfts­ban­ken re­la­tiv streng, die In­vest­ment-Ban­ken aber sehr lax re­gu­liert wur­den. Fa­tal war das Ge­fäl­le bei den Re­gu­lie­rungs­stan­dards: Es schaff­te einen An­reiz für die Ge­schäfts­ban­ken, Hy­po­the­ken, die sie ver­ge­ben hat­ten, mög­lichst schnell wie­der von ih­ren Bi­lan­zen run­ter­zu­brin­gen und an je­man­den wei­ter­zu­ge­ben, der zur Ab­si­che­rung sol­cher Ge­schäf­te nicht so viel Eigen­ka­pi­tal hal­ten muss­te. So ent­wic­kel­ten sich je­ne De­ri­va­te, die War­ren Buf­fett spä­ter als «fi­nan­zi­el­le Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen» be­zeich­nen soll­te.

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In Euro­pa be­gann die Fehl­ent­wick­lung 1986 mit der «Ein­heit­li­chen Euro­päi­schen Ak­te», die den Grund­stein zur Schaf­fung des Bin­nen­mark­tes leg­te und zu die­sem Zweck den frei­en Ka­pi­tal­ver­kehr und die Kon­ver­genz der euro­päi­schen Ban­ken- und Wäh­rungs­sys­te­me be­schloss. Der Kon­struk­ti­ons­feh­ler war, dass die Ban­ken zwar Be­we­gungs­frei­heit in der gan­zen EU er­hiel­ten, die Ban­ken­auf­sicht aber na­tio­nal blieb. Das führ­te zu einem Ab­wärts­wett­lauf der Re­gu­lie­rung, weil al­le Län­der ih­re «na­tio­na­len Cham­pi­ons» för­dern woll­ten. In der Fol­ge ent­stan­den in Euro­pa stark un­ter­ka­pi­ta­li­sier­te Me­ga­ban­ken, die so­wohl in der Sub­pri­me- als auch in der Euro­kri­se eine fa­ta­le Rol­le spie­len soll­ten.

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Ein wei­te­rer Wen­de­punkt war der so­ge­nann­te Markt­ri­si­ken-Zu­satz, mit dem 1995 die Ba­sel-Ⅱ-Re­gu­lie­run­gen er­gänzt wur­den. Die­ser Zu­satz er­laub­te es den Ban­ken, ih­re Ri­si­ken mit in­ter­nen Mo­del­len zu be­wer­ten. Wer sei­ne Ri­si­ken klein rech­ne­te, konn­te Ka­pi­tal­ko­sten sen­ken. Ge­mäss Ba­you­mi wa­ren es we­ni­ger die zu tief an­ge­setz­ten ob­li­ga­to­ri­schen Ka­pi­tal­puf­fer, die die Ban­ken aus­höhl­ten, als die Tat­sa­che, dass die Ri­si­ko­ge­wich­tung in ih­re Hän­de über­ging. Sie wa­ren frei, ih­ren Eigen­ka­pi­tal­be­darf qua­si auf null her­un­ter­zu­rech­nen. Das fand sei­ne Recht­fer­ti­gung im Glau­ben, dass die Ef­fi­zi­enz der Märk­te eine Re­gu­lie­rung im Grun­de über­flüs­sig ma­che.

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Mitt­ler­wei­le sind die ob­li­ga­to­ri­schen Ka­pi­tal­re­ser­ven viel hö­her. Wei­ter­hin wer­den aber die Ri­si­ko­mo­del­le von den Ban­ken sel­ber ka­lib­riert. Falls Ba­you­mi recht hat, wur­de der Haupt­me­cha­nis­mus, der vor zehn Jah­ren den Crash aus­lös­te, gar nicht erst an­ge­ta­stet. Steht also die näch­ste Kri­se vor der Tür? Ba­you­mi macht kei­ne Prog­no­se. Dass wir un­se­re Haus­auf­ga­ben nicht er­le­digt ha­ben, zeigt er hin­ge­gen ein­drück­lich.

DANIEL BINSWANGER
ist Kolumnist bei «Das Magazin».

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