Versailles oder Bretton Woods? Das ist die Frage, die Tamim Bayoumi in «Unfinished Business» stellt, einem Buch, das pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum der Finanzkrise publiziert wurde. Es ist nicht das erste, aber ein besonders tiefgründiges Aufarbeitungswerk. Bayoumi analysiert die strukturellen Gründe für die Krise und stellt die Frage, ob die seitherigen Reformanstrengungen Anlass zur Hoffnung geben, dass sie sich nicht wiederholt. Er entwickelt die These, dass die Finanzkrise von weit zurückreichenden Fehlentwicklungen ausgelöst wurde, ähnlich wie der Erste Weltkrieg, der nicht nur von kriegslüsternen Generälen, sondern von Ungleichgewichten im europäischen Staatensystem provoziert wurde.
Nach der Jahrhundertkatastrophe des Ersten Weltkrieges wurde mit den Verträgen von Versailles versucht, Europa zu befrieden — mit dem bekannten Ergebnis. Bis erneut ein tragfähiges Mächtesystem geschaffen werden konnte, musste die Welt durch einen noch verheerenderen Weltkrieg gehen. Die Grundlagen für eine neue Friedensordnung wurden erst 1944 in Bretton Woods geschaffen. Nach Bayoumi ist nicht auszuschliessen, dass auch die heutigen Bemühungen, das Finanzsystem zu sichern, lediglich die Voraussetzungen für eine noch viel heftigere Krise schaffen. Versailles oder Bretton Woods? Die Frage bleibt am Ende offen.
Bayoumi ist Experte für Währungssysteme und hat eine dreissigjährige Karriere beim IWF hinter sich. Er verbindet eine intime Kenntnis der Details der Finanzmarktregulierung mit einem scharfen Blick für das grosse Ganze. Er redet nur von der «nordatlantischen Finanzkrise»: Aus seiner Sicht waren es Fehlentwicklungen im amerikanischen und im europäischen Bankensystem, die erst die Subprime- und dann die Eurokrise auslösten. Sowohl in den USA als auch in Europa wurden lange vor dem Ausbruch der Krise schwere Fehler gemacht.
In den USA duldete man die Entstehung eines Schattenbankensystems, das dadurch Schub bekam, dass die Geschäftsbanken relativ streng, die Investment-Banken aber sehr lax reguliert wurden. Fatal war das Gefälle bei den Regulierungsstandards: Es schaffte einen Anreiz für die Geschäftsbanken, Hypotheken, die sie vergeben hatten, möglichst schnell wieder von ihren Bilanzen runterzubringen und an jemanden weiterzugeben, der zur Absicherung solcher Geschäfte nicht so viel Eigenkapital halten musste. So entwickelten sich jene Derivate, die Warren Buffett später als «finanzielle Massenvernichtungswaffen» bezeichnen sollte.
In Europa begann die Fehlentwicklung 1986 mit der «Einheitlichen Europäischen Akte», die den Grundstein zur Schaffung des Binnenmarktes legte und zu diesem Zweck den freien Kapitalverkehr und die Konvergenz der europäischen Banken- und Währungssysteme beschloss. Der Konstruktionsfehler war, dass die Banken zwar Bewegungsfreiheit in der ganzen EU erhielten, die Bankenaufsicht aber national blieb. Das führte zu einem Abwärtswettlauf der Regulierung, weil alle Länder ihre «nationalen Champions» fördern wollten. In der Folge entstanden in Europa stark unterkapitalisierte Megabanken, die sowohl in der Subprime- als auch in der Eurokrise eine fatale Rolle spielen sollten.
Ein weiterer Wendepunkt war der sogenannte Marktrisiken-Zusatz, mit dem 1995 die Basel-Ⅱ-Regulierungen ergänzt wurden. Dieser Zusatz erlaubte es den Banken, ihre Risiken mit internen Modellen zu bewerten. Wer seine Risiken klein rechnete, konnte Kapitalkosten senken. Gemäss Bayoumi waren es weniger die zu tief angesetzten obligatorischen Kapitalpuffer, die die Banken aushöhlten, als die Tatsache, dass die Risikogewichtung in ihre Hände überging. Sie waren frei, ihren Eigenkapitalbedarf quasi auf null herunterzurechnen. Das fand seine Rechtfertigung im Glauben, dass die Effizienz der Märkte eine Regulierung im Grunde überflüssig mache.
Mittlerweile sind die obligatorischen Kapitalreserven viel höher. Weiterhin werden aber die Risikomodelle von den Banken selber kalibriert. Falls Bayoumi recht hat, wurde der Hauptmechanismus, der vor zehn Jahren den Crash auslöste, gar nicht erst angetastet. Steht also die nächste Krise vor der Tür? Bayoumi macht keine Prognose. Dass wir unsere Hausaufgaben nicht erledigt haben, zeigt er hingegen eindrücklich.
DANIEL BINSWANGER
ist Kolumnist bei «Das Magazin».
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