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Amtsmissbrauch: Chefbeamter im Visier der Strafjustiz

Die Bundesanwaltschaft will gegen Serge Gaillard ermitteln, den Finanzdirektor des Bundes.

Philippe Reichen,
Lausanne

Die Bun­des­an­walt­schaft (BA) möch­te ge­gen Ser­ge Gail­lard, den Fi­nanz­di­rek­tor des Bun­des, ein Straf­ver­fah­ren we­gen fal­scher An­schul­di­gung, Ver­leum­dung, Amts­miss­brauch und ver­such­ter Nö­ti­gung er­öff­nen. Das zei­gen Re­cher­chen des «Ta­ges-An­zei­gers». Der mit der Un­ter­su­chung be­auf­trag­te Staats­an­walt Mar­co Ren­na ist aus die­sem Grund vor we­ni­gen Ta­gen ans Eid­ge­nös­si­sche Jus­tiz- und Po­li­zei­de­par­te­ment (EJPD) ge­langt. Er prä­sen­tier­te die Re­sul­ta­te einer ers­ten Vor­un­ter­su­chung und bat das EJPD ge­mäss Ar­ti­kel 15 im Ver­ant­wort­lich­keits­ge­setz des Bun­des um die Er­mäch­ti­gung, ge­gen den Spit­zen­be­am­ten und ehe­ma­li­gen Ge­werk­schafts­sek­re­tär ein or­dent­li­ches Straf­ver­fah­ren zu er­öff­nen. De­par­te­ments­vor­ste­he­rin Si­mo­net­ta Som­ma­ru­ga hat bis­lang noch kei­nen Ent­scheid ge­trof­fen. Ge­mäss EJPD-Spre­cher Gui­do Bal­mer wird Gail­lard im Rah­men des Er­mäch­ti­gungs­ver­fah­rens das recht­li­che Ge­hör ge­währt.

Bundesanwalt gegen Finanzchef

Kommen­tar: Ser­ge Gail­lard hat die Prob­le­me schön­ge­re­det. — Seite 2.

Die Vor­wür­fe des Fi­nanz­di­rek­tors ha­ben sich nicht er­här­tet. — Seite 3.

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Serge Gail­lard wies ges­tern ge­gen­über dem TA die ge­gen ihn er­ho­be­nen Vor­wür­fe von sich. Gail­lard be­stä­tig­te aber, dass im August 2014 im Zu­sam­men­hang mit den Aus­ein­an­der­set­zun­gen bei der Zen­tra­len Aus­gleichs­stel­le, der wich­tig­sten AHV-Zahl­stel­le der Schweiz, eine An­zei­ge ge­gen ihn ein­ge­reicht wur­de. Die BA ha­be das Ver­fah­ren be­reits vor einem Jahr er­öff­net. «Bis jetzt konn­te ich zu den Vor­wür­fen noch kei­ne Stel­lung be­zie­hen», so Gail­lard, für den die Un­schulds­ver­mu­tung gilt.

Streit mit Whistleblower

Die nun dro­hen­de Straf­un­ter­su­chung ge­gen den Fi­nanz­di­rek­tor des Bun­des ist die Fol­ge eines seit lan­ger Zeit schwe­len­den Kon­flikts mit einem in­zwi­schen ent­las­se­nen Mit­ar­bei­ter der AHV-Zahl­stel­le. Die­ser war als Whist­le­blo­wer an Gail­lard ge­langt und hat­te ihn über schwe­re Miss­stän­de in der In­for­ma­tik­be­schaf­fung und der Ge­schäfts­füh­rung der Zahl­stel­le auf­merk­sam ge­macht. Als In­for­ma­tio­nen über die Miss­stän­de an die Me­di­en ge­lang­ten, ver­däch­tig­te Gail­lard den Whist­le­blo­wer, das Amts­ge­heim­nis ver­letzt zu ha­ben, und reich­te Straf­an­zei­ge ein. Die­ser liess die An­schul­di­gun­gen nicht auf sich sit­zen und at­tac­kier­te Gail­lard sei­ner­seits mit einer Ge­gen­kla­ge. In die­ser warf er ihm vor, wi­der bes­se­ren Wis­sens fal­sche An­schul­di­gun­gen ge­gen ihn zu er­he­ben. Das Straf­ver­fah­ren we­gen Amts­ge­heim­nis­ver­let­zung ge­gen den Whist­le­blo­wer hat die BA in­zwi­schen ein­ge­stellt. Nun will sie ge­gen Gail­lard er­mit­teln. Das Er­mäch­ti­gungs­ge­such der BA zeigt, dass es für die An­schul­di­gun­gen fun­dier­te Ver­dachts­mo­men­te gibt.

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Daniel Foppa Kommentar Daniel Foppa, Ressortleiter Inland zu Serge Gaillards Rolle in der AHV-Affäre
Daniel Foppa Kommentar Daniel Foppa, Ressortleiter Inland zu Serge Gaillards Rolle in der AHV-Affäre
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Die Probleme schöngeredet

Die Probleme schöngeredet

Es ist der klas­si­sche Fall von lan­ge ge­dul­de­ten Miss­stän­den in einem Amt, ge­gen die erst auf öf­fent­li­chen Druck hin ent­schie­den vor­ge­gan­gen wird. So hat die Zen­tra­le Aus­gleichs­stel­le (ZAS) der AHV Mil­lio­nen für ge­schei­ter­te IT-Pro­jek­te ver­schleu­dert und das Be­schaf­fungs­recht sys­te­ma­tisch ver­letzt. Zu­dem leis­te­te sich die in­zwi­schen un­ter Druck zu­rück­ge­tre­te­ne Di­rek­to­rin Va­lé­rie Ca­ve­ro be­son­de­re Ex­tra­va­gan­zen: Sie lieh sich aus der Spe­sen­kas­se für pri­va­te Zwec­ke Tau­sen­de von Fran­ken in bar und reis­te mit der As­si­sten­tin für 8000 Fran­ken auf Ge­schäfts­kos­ten an eine Mö­bel­mes­se nach Schwe­den. Eine kurz­fris­tig ab­gesag­te zwei­te Rei­se kos­te­te we­gen be­reits be­zo­ge­ner Leis­tun­gen 4000 Fran­ken — al­les zu­las­ten der AHV.

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Die Miss­stän­de wur­den erst pub­lik, als der TA dar­über be­rich­te­te. Eine un­rühm­li­che Rol­le spiel­te da­bei Ca­ve­ros Vor­ge­setz­ter Ser­ge Gail­lard. Statt sich auf die Be­he­bung der Miss­stän­de zu kon­zen­trie­ren, ging er auf einen ZAS-Mit­ar­bei­ter los, den er als Whist­le­blo­wer ver­däch­tig­te. Sei­ne bei der Bun­des­an­walt­schaft (BA) ein­ge­reich­te Straf­an­zei­ge wur­de er­geb­nis­los ein­ge­stellt. Statt­des­sen ist nun Gail­lard im Fo­kus der BA — we­gen sei­nes Vor­ge­hens ge­gen die­sen Mann. Ihm war es of­fen­sicht­lich wich­ti­ger, auf den mut­mass­li­chen Über­brin­ger der schlech­ten Nach­richt zu zie­len, als für Ord­nung zu sor­gen. Gut mög­lich, dass sich Gail­lard vor der Re­ak­ti­on sei­ner po­li­ti­schen Vor­ge­setz­ten fürch­te­te. Fi­nanz­mi­ni­ste­rin Eve­li­ne Wid­mer-Schlumpf war be­kannt dafür, kur­zen Pro­zess mit Chef­be­am­ten zu ma­chen, wenn der öf­fent­li­che Druck stieg.

Die Un­ter­su­chung ge­gen Gail­lard ist im Sin­ne der Trans­pa­renz und des Whist­le­blo­wer-Schut­zes zu be­grüs­sen. Hat sich Gail­lard recht­lich nichts zu­schul­den kom­men las­sen, kann er ihr ge­las­sen ent­ge­gen­se­hen. Vor­wer­fen las­sen muss er sich je­doch in je­dem Fall, die Prob­le­me schön­ge­re­det zu ha­ben. Der­weil hat die Haupt­ver­ant­wort­li­che für die chao­ti­schen Zu­stän­de bei der ZAS einen neu­en Be­ruf: Va­lé­rie Ca­ve­ro ist seit 2015 stell­ver­tre­ten­de Ge­ne­ral­sek­re­tä­rin im Fi­nanz­de­par­te­ment des Kan­tons Genf — wo es of­fen­bar mög­lich ist, trotz lau­fen­den Ver­fah­rens we­gen einer Spe­sen­af­fä­re einen Ka­der­job in der Ver­wal­tung an­zu­tre­ten.

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Gaillard wartet auf die Justiz

Die Bundesanwaltschaft verdächtigt den Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung unter anderem der falschen Anschuldigung und des Amtsmissbrauchs. Serge Gaillard weist jede Schuld von sich.

Serge Gaillard
«Konnte noch nicht Stellung beziehen»: Serge Gaillard.Foto: Ruben Wyttenbach
Philippe Reichen,
Lausanne

Der Bundes­an­walt­schaft (BA) lie­gen die An­schul­di­gun­gen ge­gen Ser­ge Gail­lard, Fi­nanz­di­rek­tor des Bun­des, seit Mo­na­ten vor. Ein mitt­ler­wei­le ent­las­se­ner An­ge­stell­ter der Zen­tra­len Aus­gleichs­stel­le (ZAS) in Genf, der wich­tig­sten AHV-Zahl­stel­le der Schweiz, wirft Gail­lard fal­sche An­schul­di­gung, Ver­leum­dung, Amts­miss­brauch und ver­such­te Nö­ti­gung vor. Der Mann hat­te sich Gail­lard 2013 als Whist­le­blo­wer an­ver­traut und ihn fort­lau­fend über Miss­stän­de bei den In­for­ma­tik­be­schaf­fun­gen und der Ge­schäfts­füh­rung der ZAS in­for­miert.

Als In­for­ma­tio­nen dar­über an die Me­di­en ge­lang­ten, wand­te sich Gail­lard vom Mann ab und zeig­te ihn we­gen Amts­ge­heim­nis­ver­let­zung an. Das liess der Whist­le­blo­wer nicht auf sich sit­zen. Er warf Gail­lard vor, sein Amt zu miss­brau­chen, ihn zu dis­kre­di­tie­ren und ent­ge­gen der Wahr­heit an den Pran­ger zu stel­len. Al­so reich­te der Mann ge­gen Gail­lard eine Ge­gen­kla­ge ein.

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Gail­lards An­zei­ge we­gen Amts­ge­heim­nis­ver­let­zung ist mitt­ler­wei­le vom Tisch. Die BA hat die ent­spre­chen­de Straf­un­ter­su­chung am 3. Feb­ru­ar ein­ge­stellt, wie sie ges­tern auf An­fra­ge mit­teil­te. Pa­ral­lel zur Ein­stel­lung die­ses Straf­ver­fah­rens re­ak­ti­vier­te die BA nun aber die Kla­ge des Whist­le­blo­wers ge­gen Gail­lard. Die­se hat­te sie für die Dau­er der Straf­un­ter­su­chung we­gen Amts­ge­heim­nis­ver­let­zung sis­tiert. Die BA schreibt: «Nach Ab­schluss des Ver­fah­rens im Feb­ru­ar wur­den die sach­dien­li­chen Ab­klä­run­gen auf­ge­nom­men.»

Verdacht hat sich erhärtet

Gemäss Re­cher­chen des «Ta­ges-An­zei­gers» hat der un­ter­su­chen­de Staats­an­walt Mar­co Ren­na be­reits wei­ter­füh­ren­de Schrit­te ein­ge­lei­tet. Nach Ab­schluss einer Vor­un­ter­su­chung ge­lang­te er ans Jus­tiz- und Po­li­zei­de­par­te­ment (EJPD), wie dies im Ver­ant­wort­lich­keits­ge­setz des Bun­des vor­ge­schrie­ben ist. Ren­na bat das EJPD um eine Er­mäch­ti­gung, ge­gen Gail­lard ein or­dent­li­ches Straf­ver­fah­ren zu er­öff­nen. Ge­mäss TA-Re­cher­chen ha­ben sich die Ver­dachts­mo­men­te ge­gen den Fi­nanz­di­rek­tor er­här­tet. Zu­dem kön­nen De­lik­te wie fal­sche An­schul­di­gung, Ver­leum­dung, Amts­miss­brauch und ver­such­te Nö­ti­gung nicht durch ein Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren ge­löst wer­den, son­dern hät­ten bei einer Ver­ur­tei­lung zu­min­dest eine Geld­stra­fe, schlimms­ten­falls einen Frei­heits­ent­zug von bis zu drei Jah­ren zur Fol­ge.

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Gaillard noch nicht befragt

Für Ser­ge Gail­lard gilt die Un­schulds­ver­mu­tung. Auf An­fra­ge des TA wies der Fi­nanz­di­rek­tor ges­tern sämt­li­che ge­gen ihn er­ho­be­nen Vor­wür­fe zu­rück. Er sagt: «Das Ver­fah­ren wur­de be­reits vor einem Jahr er­öff­net. Bis jetzt konn­te ich zu den Vor­wür­fen kei­ne Stel­lung be­zie­hen.» Gail­lards An­wäl­tin, Isa­bel­le Büh­ler, geht of­fen­sicht­lich von einer bal­di­gen Ein­stel­lung des Ver­fah­rens aus. Sie sagt: «Die Bun­des­an­walt­schaft braucht selbst für die von uns ge­for­der­te Ein­stel­lung der Un­ter­su­chung eine Er­mäch­ti­gung des Jus­tiz- und Po­li­zei­de­par­te­ments.»

Staats­an­walt Mar­co Ren­na scheint es mit der Straf­un­ter­su­chung geg­en den Spit­zen­be­am­ten aber ernst zu sein. Doch er muss sich ge­dul­den. Bis zu einem Ent­scheid des EJPD kann es meh­re­re Wo­chen dau­ern. Eine ge­setz­lich vor­ge­schrie­be­ne Frist zur Er­mäch­ti­gung gibt es nicht. EJPD-Spre­cher Gui­do Bal­mer sagt: «Die be­schul­dig­te Per­son er­hält im Rah­men eines sol­chen Er­mäch­ti­gungs­ver­fah­rens recht­li­ches Ge­hör und kann sich zur Sa­che äus­sern.» Zweck eines Er­mäch­ti­gungs­ver­fah­rens sei nicht zu ent­schei­den, ob ein Straf­tat­be­stand er­füllt sei oder nicht. Das Ver­fah­ren ha­be aus­schliess­lich den Zweck, das Bun­des­per­so­nal vor un­be­grün­de­ten be­zie­hungs­wei­se que­ru­la­to­ri­schen oder mut­wil­li­gen Straf­ver­fah­ren zu schüt­zen und da­durch den rei­bungs­lo­sen Gang der Ver­wal­tung si­cher­zu­stel­len, so Bal­mer. Die Er­mäch­ti­gung wer­de nur dann ver­wei­gert, wenn eine Straf­bar­keit of­fen­sicht­lich nicht ge­ge­ben sei.

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Bis zur Er­mäch­ti­gung im Fall Gail­lard kann Staats­an­walt Ren­na sei­ne Er­mitt­lun­gen ge­gen die ehe­ma­li­ge ZAS-Di­rek­to­rin Va­lé­rie Ca­ve­ro wei­ter vor­an­trei­ben. Das Straf­ver­fah­ren ge­gen Ca­ve­ro, mitt­ler­wei­le stell­ver­tre­ten­de Ge­ne­ral­se­kre­tä­rin im Fi­nanz­de­par­te­ment des Kan­tons Genf, ist nach mo­na­te­lan­gen Er­mitt­lun­gen noch im­mer in Gang. Ca­ve­ro hat mit der Be­grün­dung «Vor­be­zug für di­ver­se Spe­sen» wie­der­holt Geld aus der Kas­se ge­nom­men — und erst Mo­na­te spä­ter zu­rück­ge­legt. Zu­dem soll es beim Ma­na­ge­ment mit Mit­ar­bei­ter­ver­trä­gen zu Un­re­gel­mäs­sig­kei­ten ge­kom­men sein.

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