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Beschaffungsskandale |
Die Wende kommt unerwartet. Im Juli 2012 präsentierte Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf Serge Gaillard als neuen Chef der Eidgenössischen Finanzverwaltung. Die Finanzministerin und Gaillard strahlten vor versammelter Presse um die Wette. Beide mit gutem Grund: Der ehemalige Spitzengewerkschafter hatte sich in fünf Jahren von der Leitung der Direktion für Arbeit innerhalb der Bundesverwaltung zu einem Prestigeposten emporgearbeitet. Die Bundesrätin wiederum hatte sich die Dienste eines rhetorisch beschlagenen, blitzgescheiten Ökonomen gesichert, der zwar linken Wirtschaftstheorien anhängt, bei dem sie aber sicher sein konnte, dass er ihre Entscheide loyal umsetzt.
Und dann dies: Der 59-Jährige muss gleich für zwei grössere Affären beim Bund geradestehen. Beide betreffen das Informatikwesen und sind so weit aufgearbeitet, dass sich feststellen lässt: Der über die Parteigrenzen hinweg geschätzte Sozialdemokrat hinterlässt in beiden Fällen einen wenig souveränen Eindruck. Im Korruptionsfall beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), wo Gaillard von 2007 bis 2012 die Direktion für Arbeit leitete, konnte sich ein Mitarbeiter bei Informatikbeschaffungen während Jahren persönlich bereichern. Der direkte Vorgesetzte des Fehlbaren war gesundheitlich angeschlagen und mit seinem Posten überfordert, er kontrollierte den ihm Unterstellten nicht. Trotzdem änderte Gaillard nichts an der Führungsstruktur, weil er den Abteilungsleiter nicht desavouieren wollte. Das Beschaffungsrecht war derweil faktisch ausser Kraft gesetzt.
Dasselbe geschah bei der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) in Genf, der wichtigsten AHV-Zahlstelle der Schweiz. Auch da wurden seit 2012 IT-Projekte durchgehend unter der Hand vergeben. Auch hier merkte Gaillard, der als Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung die ZAS beaufsichtigt, nichts von illegalen Machenschaften. Bis ZAS-Angestellte als Whistleblower an Gaillard und vor allem die Eidgenössische Finanzkontrolle herantraten und die Rechtsbrüche nach und nach ans Licht kamen.
Die Affären seien wohl «primär Pech», beurteilt Gerold Bührer die Situation. Der ehemalige FDP-Nationalrat und Ex-Präsident des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse hat Gaillard während seiner Zeit als Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes kennen und schätzen gelernt. Er könne Gaillards Führungsqualitäten zwar nicht beurteilen, aber halte ihn für einen «sehr guten Ökonomen», der ohne parteipolitische Ranküne auftrete. Für Maria Bernasconi, SP-Nationalrätin und Generalsekretärin des Personalverbands des Bundes (PVB), meistert Gaillard eine «schwierige Situation nach bestem Wissen und Willen». Für die Situation bei der ZAS könne er nichts, sondern müsse Altlasten abbauen, sagt die Genfer Nationalrätin. So sieht das auch René-Simon Meyer, PVB-Präsident und Sektionschef bei der ZAS. Die Missstände seien von Bern aus schwierig auszumachen gewesen, sagt Meyer. Die Verstösse hätten auffallen müssen, es gab genug Hinweise. Jedenfalls sei Gaillard mittlerweile öfter in Genf anzutreffen als je ein Direktor der Finanzverwaltung vor ihm. Der Zuger SVP-Nationalrat Thomas Aeschi, der die ZAS mit einer Subkommission der Finanzkommission vor wenigen Tagen besucht hat, bleibt skeptisch, ob Gaillard eine schnelle Wende herbeiführen kann. Er sagt: «Ich erkenne die besten Absichten, die IT-Situation bei der ZAS zu lösen. Aber die Probleme sind gravierend, und eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht.»
Trotz Rückhalt für Gaillard stellen sich Fragen: Hatte er wirklich nur Pech? Oder sieht der Gute das Böse nicht? Vertraut er seinen Angestellten blind? Reagiert er in Krisensituationen zu wenig konsequent? Der Zürcher Rechtsprofessors Urs Saxer, der den Korruptionsfall im Seco untersuchte, stellt fest: Gaillard hätten die Gesetzesverletzungen auffallen müssen, und er hätte auch die Bereicherung bemerken können, Hinweise gab es genug. Er schreibt: «Die Hinweise hätten nicht direkt zur Aufdeckung unrechtmässiger Verhaltensweisen (…) führen müssen, aber in jedem Fall eine intensivere Kontrolle des betreffenden Bereichs und seines Leiters nahegelegt.»
Bei der Nichtbeachtung von Ausschreibungspflichten habe Gaillard eine Mitverantwortung eingeräumt, so Saxer. Gaillard bestätigt: «Aus heutiger Sicht habe ich dem Beschaffungswesen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich ging davon aus, dass die rechtlichen Vorgaben eingehalten waren. Bis ins Jahr 2010 war das Beschaffungswesen auch kein grosses Thema.» Auch bei der ZAS hat Gaillard von Problemen im Beschaffungswesen zunächst nichts gemerkt. Kam dazu, dass die ZAS-Geschäftsleitung um die ehemalige Direktorin Valérie Cavero gegen ihn arbeitete. Das zeigt ein E-Mail des Sektionsleiters C. K., das dem TA vorliegt. Gaillard verlangte von der ZAS-Direktion im Herbst 2013, dass sie nicht mehr so viele externe Informatikspezialisten temporär anstellt, sondern IT-Experten mit Arbeitsverträgen fix an sich bindet. Als der Budgetentwurf vorlag, verlangte er entsprechende Korrekturen. Die Direktion war mit dem Entscheid offensichtlich nicht einverstanden und versuchte, Gaillard zu hintergehen. So schrieb C. K. am 23. September 2013 an den IT-Chef und an Direktorin Cavero: «Es gibt keinen Grund, von unserer Strategie abzurücken. Ich erinnere noch einmal daran, dass, wenn das Budget nicht reichen sollte, wir immer noch Reserven nutzen oder Zusatzkredite verlangen können. Aus meiner Sicht gibt es keine Finanzierungsprobleme, die Mittel decken unseren Bedarf.» Gaillard dürfte von der Operation gegen ihn nichts bemerkt haben. Denn der Sektionschef C. K. wurde mittlerweile sogar befördert — mit Gaillards Zustimmung. Dieser sagt, er habe in seinen Mitarbeiter «volles Vertrauen».
Jean-Daniel Gerber, bis 2011 Seco-Chef, lobt trotz der Vorkommnisse das Menschenbild seines ehemaligen Mitarbeiters. «Serge Gaillard hat eine positive Lebensauffassung. Er ist ein treuer Staatsdiener, der seinen Mitarbeitern vertraut. Dieses Vertrauen wurde von Einzelnen missbraucht, das ist schade für Gaillard», urteilt Gerber.
Menschenfreund Gaillard kann auch anders. Gegen einen ZAS-Mitarbeiter, dessen Anwalt dem TA eröffnete, sein Klient habe sich als Whistleblower an die eidgenössische Finanzkontrolle gewandt und ihr geholfen, die Missstände aufzudecken, hat er bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung eingereicht. Zwar richtet sich die Strafanzeige offiziell gegen unbekannt, trotzdem ist der Mitarbeiter in der Anzeige als Einziger namentlich erwähnt. Es heisst: Er sei «als Täter nicht auszuschliessen». Beim Betroffenen kam es zu einer Hausdurchsuchung und Beschlagnahmungen, gegen die er sich beim Bundesstrafgericht in Bellinzona zur Wehr setzte. Noch hat das Gericht den Rekurs nicht behandelt. Der Betroffene hat zu seiner Verteidigung nun einen weiteren Schritt unternommen und gegen Gaillard eine Strafanzeige, unter anderem wegen Amtsmissbrauchs, eingereicht. Sein Anwalt bestätigt dies gegenüber dem TA. Gaillard sagt: «Ich habe alles getan, um Konflikte zu entschärfen. In diesem Fall wohl erfolglos.» Der Fall wird wohl vor Gericht enden.
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Der IT-Skandal bei der Zentralen Ausgleichsstelle in Genf hat auch für den Abteilungschef Konsequenzen.
Die Geschäftsleitung der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) in Genf, der wichtigsten AHV-Zahlstelle der Schweiz, und ihr Informatikchef trennen sich per Ende Oktober. Dies hat der Kadermann der Belegschaft gestern von sich aus in einer internen Mitteilung bekannt gegeben. Der IT-Chef schreibt: «Jetzt, wo das mediale Gewitter hinter uns zu liegen scheint, muss ich Bilanz ziehen, mich hinterfragen und die beste Lösung für die IT-Abteilung und die ZAS avisieren.» Er habe deshalb beschlossen, sich neuen Herausforderungen in einer anderen Organisation zu stellen.
Patrick Schmied
ZAS-Direktor
Seinen Posten übernimmt interimistisch ZAS-Direktor Patrick Schmied, der am 1. August dieses Jahres die im November 2013 zurückgetretene Direktorin Valérie Cavero ersetzt hat. ZAS-Direktionsadjunkt Markus Odermatt bestätigte gestern gegenüber dem TA den Abgang des IT-Chefs, wollte auf die Beweggründe seines Kollegen aber nicht näher eingehen. Doch es ist anzunehmen, dass der Kadermann mit seinem Entscheid die Konsequenzen aus dem IT-Skandal zieht. Diesen hat er mitzuverantworten.
Der Skandal war Gegenstand je einer Untersuchung von Ernst & Young und der Eidgenössischen Finanzkontrolle. Dem IT-Chef steht seit Abschluss der Untersuchungen ein Coach zur Seite. Dieser soll auch dafür sorgen, dass die zu 90% aus AHV-Geldern finanzierte ZAS ihre IT-Projekte korrekt ausschreibt. Zumindest seit 2012 war dies nicht mehr der Fall. Die Bundesstelle hat zum Teil mehrere Millionen Franken teure IT-Projekte freihändig vergeben und damit gegen das Beschaffungsrecht verstossen. Etliche Projekte, auch früher lancierte, mussten ergebnislos abgebrochen werden. Auch kam es zu Kostenüberschreitungen. Die Investitionen in die Modernisierung des IT-Systems zeigten wenig Wirkung. Das sieht offenbar auch der abtretende IT-Chef so. Er schreibt: «Den Weg, den es bei der Modernisierung (…) zu gehen gilt, ist noch lang. Aber die Grundsteine für die Zukunft sind gelegt.»
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Zwei IT-Firmen profitierten in den letzten acht Jahren von den freihändigen Vergaben.
Bislang war nur bruchstückhaft bekannt, wie gross die Aufträge an die Firmen waren, die in die Korruptionsaffäre im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) involviert sind. Öffentlich publiziert wurden die durchwegs freihändigen Vergaben nämlich nie. Nun schafft das Seco auf Nachfrage Klarheit für die letzten acht Jahre: Seit 2006 erhielten die beiden Firmen Aufträge im Wert von 73 Millionen Franken für Dienstleistungen und Hardware für die Informatiksysteme der Arbeitslosenversicherung. Wie viel davon abgezweigt wurde, ist Gegenstand der laufenden Untersuchung der Bundesanwaltschaft.
Mit dem Geld wurde unter anderem ein neues Rechenzentrum aufgebaut, das zwar gut funktioniert, aber möglicherweise gar nicht zwingend notwendig ist. Das Seco überprüft derzeit, ob die IT-Systeme der Arbeitslosenversicherung richtig aufgestellt sind. Gut drei Viertel der 73 Millionen gingen an die Fritz & Macziol (Schweiz) AG und an zwei Firmen, die in ihr aufgegangen sind. Knapp ein Viertel der Gesamtsumme ging an die System Connect AG.
Seit über 20 Jahren im Geschäft
Die Auftragsvolumen der Zeit vor 2006 sind nicht bekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass die Geschäftsbeziehungen zu den Firmen schon länger bestanden. Der Inhaber der System Connect AG sagte bei seiner Einvernahme aus, seit über 20 Jahren vom Seco Aufträge erhalten zu haben. Zudem konstatierte die Bundesanwaltschaft bereits 2007, dass der beschuldigte Seco-Ressortleiter «immer mit denselben Firmen» zusammenarbeite.
Das Zitat stammt aus der Einstellungsverfügung eines ersten Verfahrens gegen den beschuldigten Ressortleiter, das die Bundesanwaltschaft aufgrund von zwei anonymen Schreiben 2005 eröffnet hatte. Dass es 2007 ohne Anklage wieder eingestellt wurde, war für die Vorgesetzten ein Zeichen dafür, dass alles in Ordnung war. Der damalige Direktor für Arbeit, Serge Gaillard, wird in der Administrativuntersuchung Saxer wie folgt wiedergegeben: «Da diese Untersuchung keine konkreten Resultate ergeben habe, sei er (Gaillard, Red.) davon ausgegangen, dass es sich um blosse Gerüchte handle, und habe entwarnt.»
Briefkastenfirmen sollen korrupten Unternehmern kein Versteck bieten. Deshalb fordert Transparency International öffentliche Register, den besseren Schutz von Whistleblowern und die Verschärfung des schweizerischen Korruptionsstrafrechts. Ziel ist es, die Korrupten zu enttarnen, wie der Verein, der sich gegen Korruption engagiert, gestern mitgeteilt hat. In einem ersten Schritt fordert er das Parlament auf, die geplanten Geldwäscherei-Regeln, die sogenannte Gafi-Vorlage, nicht zu verwässern. Der Nationalrat hatte im Sommer die Empfehlungen der OECD-Expertengruppe zerzaust und die Vorlage des Bundesrates aufgeweicht.
(SDA)Aus heutiger Sicht war dies ein gefährlicher Schluss, zumal die Ermittler schon damals auf verdächtige Geldtransfers stiessen. In der Einstellungsverfügung sind einerseits Barzahlungen auf verschiedene Konten des Ressortleiters und seiner Partnerin erwähnt. Unter anderem zahlte er Anfang 2006 innert zweier Monate 40'000 Franken in bar auf sein Sparkonto ein. Andererseits überwiesen ihm mehrere Firmen im Zeitraum von eineinhalb Jahren 89'000 Franken. Die Namen der Firmen sind in der freigegebenen Verfügung geschwärzt.
Weshalb reichte diese Faktenlage, zusammen mit den anonymen Schreiben, nicht für eine Anklage? Ein Seco-Jurist mit Aktenkenntnis äusserte in der Befragung für die Untersuchung Saxer «Verwunderung» über die Verfahrenseinstellung. Auf Anfrage will er sich aber nicht weiter dazu äussern. In der Einstellungsverfügung steht — als Fakt formuliert —, der Ressortleiter habe die erwähnten Gelder «im Rahmen seiner Tätigkeit als Verwalter einer Feriensiedlung in Spanien erhalten».
Experte äussert Verständnis
Der TA hat die Einstellungsverfügung Peter Cosandey vorgelegt. Der ehemalige Zürcher Staatsanwalt und heutige Berater ist spezialisiert auf Wirtschaftskriminalität. Natürlich könne man sich fragen, ob die Bundesanwaltschaft alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, sagt Cosandey. Denn Barzahlungen seien per se verdächtig. Aufgrund der Formulierungen aus der Verfügung sei der Entscheid, keine Anklage zu erheben, für ihn aber trotzdem nachvollziehbar.
Offenbar habe der beschuldigte Beamte die verdächtigen Zahlungen einigermassen plausibel erklären können, sagt Cosandey. Zudem habe die interne Seco-Revision bestätigt, dass die Zusammenarbeit mit den immer gleichen Firmen technisch bedingt war. Der Anfangsverdacht habe sich also eher abgeschwächt als erhärtet. «Für die Ermittler stellt sich in jedem Verfahren die Frage, ob sich der Aufwand zusätzlicher Abklärungen lohnen könnte», sagt Cosandey. Je nach Prioritäten und Arbeitslast müsse man als Strafverfolger auch mal eine Akte schliessen, selbst wenn nicht alle Zweifel restlos ausgeräumt seien. «Es gibt immer wieder Fälle, da weiss man genau, wie krumme Geschäfte abgelaufen sind. Trotzdem kann man sie nicht zur Anklage bringen, weil für eine Verurteilung — salopp ausgedrückt — zu wenig Fleisch am Knochen ist.»
Powered by | Stand: 12. August 2014 | © Tages Anzeiger |