Uniklinik schreibt auf Drängen der IV Gutachten um
Die IV hat mit fragwürdigen Methoden den früheren Rentenentscheid einer Patientin korrigiert.
Von René Staubli
Die Invalidenversicherung (IV) hat die Psychiatrische
Universitätsklinik Zürich im vergangenen September dazu gedrängt, einen
optimistischen Klinikbericht über die Arbeitsfähigkeit einer IV-Klientin
zu überprüfen und anzupassen. Der zuständige Arbeitstherapeut gab dem
Wunsch der Zürcher IV-Stelle nach und kehrte die eigene Expertise ins
Negative um, ohne die Klientin noch einmal konsultiert zu haben und ohne
sie über die Abänderung zu informieren.
Die IV ging noch einen Schritt weiter: Sie attestierte der
Klientin, die seit Jahren unter schweren Rückenbeschwerden leidet, eine
«schwere Persönlichkeitsveränderung», ohne sie psychiatrisch begutachtet
und ohne sie über den gravierenden Befund informiert zu haben. Ihre
«Diagnose» stützt die IV auf einen sieben Jahre alten Bericht. Die
Klientin hatte damals einem Arzt in der Schmerzklinik des Unispitals von
ihrer schwierigen Jugend erzählt. Von einer «schweren
Persönlichkeitsveränderung» steht in jenem Bericht kein Wort.
Hätte die IV-Stelle der Klientin nur wegen erwiesener
Arbeitsunfähigkeit und ohne zusätzliche Diagnose eine Rente
zugesprochen, wäre die Frage aufgetaucht, warum man sie 2010
arbeitsfähig geschrieben und ihr die Rente aberkannt hatte. Nachdem die
Klientin sechs Jahre lang eine volle IV-Rente bezogen hatte, war ihr
diese nach einer Begutachtung gestrichen worden. Zwar hatte der
Gutachter damals die Meinung vertreten, die Klientin sei in ihrer
angestammten Tätigkeit als Betreuerin in Behindertenwerkstätten
vollständig arbeitsunfähig. Dennoch entschied er, sie könne in einer
angepassten Tätigkeit 80 Prozent arbeiten, worauf die IV die Rente
kappte (TA vom 14. September 2011).
Integration scheiterte
In der Folge scheiterten die Bemühungen, die 59-Jährige in den
Arbeitsprozess zu integrieren. Im Oktober sprach ihr die IV deshalb
wieder eine volle Rente zu — mit der Begründung, sie sei nicht wegen
ihres Rückenleidens arbeitsunfähig, sondern wegen der «schweren
Persönlichkeitsveränderung».
IV-Sprecherin Daniela Aloisi bestätigt die Bitte zur
«Überprüfung», erklärt aber, der Fall sei ein Beleg dafür, dass die
IV-Stelle nicht auf ihrem ursprünglichen Entscheid beharrt habe: «Wir
sind der sich verändernden Situation mit der nötigen Offenheit und
Flexibilität mit neuen Entscheiden gerecht geworden.»
Die Psychiatrische Universitätsklinik beantwortete die Frage nicht,
ob es üblich sei, Berichte auf Drängen der IV umzuschreiben.
Kommentar Seite 2, Bericht Seite 11
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Kommentar
René Staubli, Reporter, über die Methoden der IV Zürich und der Psychiatrischen Uniklinik.
Der Zweck heiligt nicht jedes Mittel
Einer von Rückenschmerzen geplagten Frau wird nach sechsjähriger
Bezugsdauer die IV-Rente gestrichen. Beim Versuch der
Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess zeigt sich, dass jener
Entscheid nicht vertretbar war. Um der 59-Jährigen trotzdem wieder eine
Rente zusprechen zu können, greifen die Zürcher IV-Stelle und die
Psychiatrische Uniklinik zu fragwürdigen Methoden: Sie drehen einen
positiven Arbeitsfähigkeitsbericht ins Negative um und schreiben der
Klientin eine schwere psychische Störung zu. Kritische Fragen zu den
Vorgängen werden nur selektiv beantwortet. Die IV-Stelle erklärt, man
habe lediglich Flexibilität bewiesen und im Interesse der Klientin
gehandelt, denn diese sei ja nun aus ihrer materiellen Not erlöst.
So einfach geht es natürlich nicht; der Zweck heiligt nicht jedes
Mittel. Die IV und die Psychiatrische Universitätsklinik sind
Institutionen, die vom Vertrauen der Öffentlichkeit leben. Dieses
Vertrauen wird arg strapaziert, wenn Untersuchungsberichte und
medizinische Einschätzungen einfach so umgeschrieben werden.
Zwar haben sich diesmal die Handlungen zumindest finanziell
zugunsten der Klientin ausgewirkt. Man fragt sich aber, ob es auch
gegenteilige Beispiele gibt. Und auch in diesem Fall besteht der
begründete Verdacht, dass die IV sowohl bei der Aberkennung der Rente im
Jahr 2010 wie bei der Zusprechung im vergangenen Oktober nicht auf
sachlicher Grundlage entschieden hat. Dass sich die Verantwortlichen der
beiden Institutionen zu zentralen Fragen nicht äussern, macht
misstrauisch.
Über den Einzelfall hinaus wirft das Vorgehen grundsätzliche
Fragen auf: Bei den medizinischen Begutachtungen definiert die IV stets
die theoretische Arbeitsfähigkeit eines gesundheitlich angeschlagenen
Klienten. Ob diese theoretische Arbeitsfähigkeit dann auch ausreicht, um
in der realen Arbeitswelt einen Job zu finden, kümmert die IV wenig —
wenn die Integration nicht klappt, sind ja immer noch die Sozialämter
da. In der laufenden Revision 6a will die IV 17'000 Personen die Rente
streichen und sie in den Arbeitsmarkt reintegrieren. Man wird ihr genau
auf die Finger schauen, welche Mittel sie dabei anwendet.
* * *
Die zweifelhaften Methoden der IV
Die IV verlangte von der Psychiatrischen Uniklinik, im Fall von
Elsbeth Isler einen Bericht umzuschreiben. Zudem diagnostizierte sie
ohne Untersuchung eine «schwere Persönlichkeitsveränderung».
Von René Staubli
Die Gutachten, ob sie wieder arbeiten konnte, widersprachen sich: IV-Patientin Elsbeth Isler.
Foto: Reto Oeschger
Zürich — Elsbeth Isler sollte zu einem leuchtenden Beispiel
werden. An ihrem Fall wollte die Invalidenversicherung (IV) zeigen, wie
leicht sich Menschen wieder in den Arbeitsprozess integrieren lassen,
denen man die IV-Rente aberkannt hat (siehe unten).
Nach mehr als einjährigen Bemühungen steht Isler nun aber als
Beispiel dafür, wie schwierig dies sein kann: Für die 59-jährige
Fehraltorferin konnte die IV-Stelle Zürich keine Arbeit finden. Seit
kurzem bezieht sie wieder eine volle IV-Rente. Immerhin muss Isler keine
Existenzängste mehr haben — das ist die positive Nachricht. Irritierend
ist allerdings, welche Methoden die IV angewandt hat, um zu diesem
Ergebnis zu kommen.
Der Fall Isler: Verlust der IV-Rente über Nacht
(res)
Elsbeth Isler (59) aus Fehraltorf hatte wegen eines schweren
Rückenleidens und der damit verbundenen Arbeitsunfähigkeit sechs Jahre
lang eine volle IV-Rente bezogen. Ende 2009 erhielt sie ein Aufgebot ans
Ärztliche Begutachtungsinstitut (ABI) in Basel, wo sie von einem
«fliegenden Gutachter» aus Wien untersucht wurde. Dieser vertrat die
Auffassung, sie sei zwar in ihrer angestammten Tätigkeit als Betreuerin
in Behindertenwerkstätten vollständig arbeitsunfähig, könne aber in
einer angepassten körperlichen Tätigkeit ein Arbeitspensum von 80
Prozent bewältigen.
Das Attest hatte Folgen: Die IV reduzierte die volle Rente auf
eine Viertelrente, wodurch Isler in finanzielle Not geriet. Die IV hatte
mit ihr in den sechs Jahren nie ein Gespräch über
Eingliederungsmassnahmen geführt. Und nun teilte ihr das Regionale
Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) schon beim ersten Treffen mit, mit
solchen Beschwerden sei sie im Arbeitsmarkt nicht vermittelbar.
Der TA publizierte diese Geschichte am 14. September 2011. Damals
liess die Zürcher IV-Stelle verlauten, sie wolle ihr «breites Netzwerk
zu Arbeitgebern im Kanton» nutzen, um Isler Arbeit zu verschaffen.
Dass das schwierig werden würde, war absehbar. Denn 2009,
unmittelbar vor der Aberkennung der Rente, hatte ein Facharzt
festgehalten, unter welchen Umständen Isler arbeitsfähig wäre: Sie könne
«nicht über dem Kopf oder in gebückter Haltung arbeiten, höchstens 5
bis 10 kg heben, nicht länger als 5 Minuten an einem Ort stehen, nicht
länger als 15 Minuten am Stück sitzen und höchstens 10 Minuten gehen»,
dies bei «regelmässigen Pausen mit der Möglichkeit, sich hinzulegen und
entsprechend den Beschwerden abwechslungsweise zu sitzen, zu gehen und
zu stehen».
Anfang April 2012 unterzog sich Isler in Absprache mit der IV
einer vierwöchigen Abklärung ihrer «Arbeits- und Lebenssituation» an der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. In der Metallgruppe fertigte
sie künstlerische Gegenstände, begleitet von einem Arbeitstherapeuten.
Dieser attestierte ihr in seinem Schlussbericht vom 9. Mai trotz hoher
Schmerzbelastung «eine hohe Motivation und gute Arbeitsfähigkeiten». Um
das Ziel einer «dauerhaften Integration im allgemeinen Arbeitsmarkt» zu
verfolgen, empfahl er «ein geeignetes Aufbau- oder Belastungstraining».
Dieses fand im Wisli statt, einem Zentrum für Wiedereingliederung
in Bülach. Dem Schlussbericht vom 22. August ist Folgendes zu
entnehmen: «Frau Isler digitalisiert seit sechs Wochen Dateien. (…)
Diese Tätigkeit entspricht ihr und macht ihr Spass. (…) Sie arbeitet
sehr genau, zuverlässig und hat ein gutes Auge fürs Detail.» Gleichwohl
gelang es nicht, ihr Arbeit zu vermitteln. Denn, so hiess es im Bericht
weiter: «Eine Anstellung im freien Arbeitsmarkt, wo sie sich dem
Arbeitsrhythmus und den Rahmenbedingungen eines Arbeitgebers anpassen
muss, betrachten wir als unrealistisch.» Das Wisli empfahl der IV den
Abbruch der Eingliederungsmassnahmen und «die Einleitung der
Rentenprüfung».
Damit konstatierte auch das Wisli-Team, was diverse Fachärzte
schon 2009 festgestellt hatten: Isler war körperlich zu sehr
handicapiert, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Diese
Expertenmeinungen hatte die IV damals beiseitegewischt.
Aus positiv wurde negativ
Der IV-Stelle Zürich lagen nun zwei diametral entgegengesetzte
Einschätzungen vor: Für die Uniklinik war Isler zu 30 bis 40 Prozent
erwerbsfähig; der zuständige Therapeut sah durchaus Chancen, sie in den
Arbeitsprozess zu integrieren. Das Wisli hingegen vertrat die
gegenteilige Auffassung. Was tun?
Die IV gelangte erneut an die Uniklinik und forderte die
Verantwortlichen auf, ihre optimistische Einschätzung «zu überprüfen».
Dies räumt Daniela Aloisi, Sprecherin der IV-Stelle Zürich, schriftlich
ein. Für die Uniklinik war der Wunsch der IV Befehl. Der
Arbeitstherapeut holte seinen sechsseitigen Bericht vom 9. Mai auf den
Bildschirm, drehte seine Einschätzungen ins Negative und datierte den
ansonsten unveränderten Bericht neu auf den 17. September. Isler erfuhr
davon nichts.
Dem TA liegen die beiden Versionen integral vor. Folgende
Passagen belegen, welch gravierende Veränderungen der Therapeut an
seinem Text vornahm:
Version 1: «Sie konnte dadurch erleben, dass ihre
Belastungsgrenzen sich teilweise veränderten und sie zudem ein grösseres
Gefühl an Produktivität erreichte.» Version 2: «Sie konnte ihre
Belastungsgrenzen nicht erweitern und nur kurzzeitig ein grösseres
Gefühl an Produktivität erreichen.»
Version 1: «In diesem Zusammenhang erkannte Frau Isler, dass sie
in der Auseinandersetzung mit Institutionen und der Durchsetzung ihrer
Interessen neue Strategien entwickeln kann. In diesem Prozess war sie
offen für Beratungen.» Version 2: «In diesem Zusammenhang wirkte Frau
Isler in der Auseinandersetzung mit Institutionen und der Durchsetzung
ihrer Interessen starr, konfrontativ und teilweise unrealistisch.»
Version 1: «Frau Isler konnte ihre durch Kampf geprägte Rolle und
die entsprechenden Strategien überprüfen und erweitern, erlebte dadurch
ein deutliches Gefühl der Produktivität und eine zusätzliche
Druckentlastung.» Version 2: «Frau Isler konnte ihre durch Kampf
geprägte Rolle und die entsprechenden Strategien nicht verändern und
erlebte durch die Teilnahme an Modul A eine zusätzliche Belastung ihres
Alltags.»
Nachdem der Therapeut zuerst festgehalten hatte, dass Isler «bei
konkreter Anpassung der Arbeitsbedingungen an ihre körperlichen
Möglichkeiten» zu 30 bis 40 Prozent arbeitsfähig sei, schrieb er nun:
«Auch bei einer konkreten Anpassung der Arbeitsbedingungen an ihre
körperlichen Möglichkeiten ist aktuell eine Restarbeitsfähigkeit für
eine dauerhafte Tätigkeit in einem Anstellungsverhältnis am ersten
Arbeitsmarkt nicht erkennbar.»
Uniklinik-Sprecherin Zsuzsanna Karsai bestätigt, dass man auf
Wunsch der IV gehandelt habe. Die Frage, ob es üblich sei, Berichte so
abzuändern, beantwortete sie nicht und verwies an die IV. Diese
verweigerte dem TA ein Interview mit dem IV-Stellenleiter Marc Gysin.
Heimliche «Diagnose»
Nachdem Islers «Arbeitsunfähigkeit» auf diese Weise dokumentiert
war, hätte ihr die IV die Rente ohne weiteres wieder zusprechen können.
Das allerdings hätte die Frage aufgeworfen, warum man Isler 2010
arbeitsfähig geschrieben und ihr die Rente aberkannt hatte. In dieser
Situation ging die IV-Stelle noch einen Schritt weiter. Sie attestierte
Isler zwecks Begründung der Rente eine «schwere
Persönlichkeitsveränderung» — ohne sie psychiatrisch untersucht zu
haben. Von dieser «Diagnose» erfuhr Isler erst, als der TA mithilfe
ihrer Vollmacht die IV-Akten eingesehen hatte.
Im Dokument «Verlaufsprotokoll Eingliederungsberatung» vom 15.
Januar 2013 ist Folgendes festgehalten: «Wir kamen zum Ergebnis, dass
aus psychischen Gründen die vP (versicherte Person, die Red.)
leistungseingeschränkt ist und es sich bei ihr um eine schwere
Persönlichkeitsveränderung handelt, die uns schlussendlich veranlasste,
die Rente wieder zuzusprechen, da die zuerst angenommene
Arbeitsfähigkeit leider nicht umzusetzen ist.»
Für den Winterthurer Rechtsanwalt und Versicherungsspezialisten
Massimo Aliotta ist klar: «Eine so schwerwiegende Diagnose hätte die IV
nur stellen können, wenn man die Klientin noch einmal medizinisch
begutachtet und einen zusätzlichen Bericht verfasst hätte.» Das geschah
nicht. Laut den IV-Akten stützten die zuständige Ärztin des regionalen
ärztlichen Dienstes (RAD) sowie die Sachbearbeiterinnen der IV und des
Wisli ihre «Diagnose» auf Aussagen, die Isler 2005 in der
Schmerzsprechstunde des Zürcher Unispitals gemacht hatte: Sie habe in
ihrer Kindheit unter der physischen und psychischen Gewalt ihres
alkoholkranken Vaters gelitten. Von einer «schweren
Persönlichkeitsveränderung» ist im Bericht des Unispitals nirgends die
Rede. Sieben Jahre später zog die IV, wie aus den Akten hervorgeht,
gleichwohl den Schluss, es sei «sehr wahrscheinlich», dass sich Islers
körperliches Leiden «auf dem Boden der psychischen Störung entwickelt
hat und nicht umgekehrt».
Für Isler ist die Sache zwiespältig: «Ich bin froh, dass ich
meine IV-Rente wieder bekomme und davon leben kann. Aber es ist nicht
leicht zu ertragen, wenn man einfach so für psychisch schwer gestört
erklärt wird.»
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Gutachten
Es genügt nicht, wenn die Invalidenversicherung die Arbeitsfähigkeit nur theoretisch abklärt.
Von Andrea Fischer
Mehr Praxisnähe täte der IV gut
Arbeit mit hohem Unfallrisiko: Forstarbeiter beim Holzschlag im Kanton Glarus.
Foto: Gaëtan Bally (Keystone)
Und wieder macht die Invalidenversicherung (IV) mit negativen
Schlagzeilen von sich reden. Diesmal muss sie sich vorwerfen lassen,
einen früheren Entscheid mit zweifelhaften Methoden korrigiert zu haben.
Zuerst hatte die IV der heute 59-jährigen Fehraltorferin Elsbeth Isler
zu Unrecht die Rente gekürzt. Später attestierte ihr die IV eine
«schwere Persönlichkeitsveränderung» — ohne psychiatrische Untersuchung
(TA vom Montag und Dienstag). Die Tatsache, dass die gesundheitlich
schwer beeinträchtigte Elsbeth Isler dadurch wieder eine Rente erhält,
entschuldigt das Vorgehen der IV keineswegs.
Doch bei aller Kritik zu den Umständen des Entscheids muss man
der IV zugutehalten, dass sie im Fall Isler die Möglichkeit zur
Wiedereingliederung gründlich abgeklärt hat. Sie hat sich nicht mit dem
Befund ihrer Gutachter begnügt, welche die frühere Behindertenbetreuerin
trotz massiver, nachgewiesener Rückenbeschwerden für arbeitsfähig
hielten. Sie wollte es genauer wissen und schritt deshalb zur
praktischen Prüfung.
In einer Wiedereingliederungsstätte konnte Elsbeth Isler ihre
Erwerbsfähigkeiten unter realen Bedingungen anhand von geeigneten
Tätigkeiten testen lassen. Und obwohl sie sich grosse Mühe gab, kamen
die Fachleute der Eingliederungsstätte zum Schluss, dass eine
Integration in den freien Arbeitsmarkt unrealistisch sei. Dieser Befund
war schliesslich ausschlaggebend für die IV, der Frau erneut eine Rente
zuzusprechen.
Keine Selbstverständlichkeit
Man sollte meinen, dass eine praktische Abklärung der
Arbeitsfähigkeit zum Standard gehört, insbesondere bei Personen, die
schon längere Zeit aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind. Dem sei
aber bislang nicht so, sagen Fachanwälte.
Zwar sieht das Gesetz zahlreiche Massnahmen vor, um die
betroffenen Personen bei der Wiedereingliederung zu unterstützen. Doch
es lässt den IV-Stellen einen grossen Freiraum, zu entscheiden, was sie
im konkreten Fall für nützlich halten. Oft stützt sich die IV lediglich
auf ihre Gutachter, wenn diese den Klienten eine theoretische
Arbeitsfähigkeit attestieren. Doch ob die medizinisch-theoretische
Arbeitsfähigkeit effektiv realisierbar ist, lässt sich letztlich nur
unter realen Bedingungen feststellen, wie selbst die IV-Stelle Zürich
einräumt. Die praktische Überprüfung müsste deshalb zur Regel werden in
allen Fällen, wo die IV eine bestehende Rente nach mehreren Jahren
streicht oder kürzt.
Das würde die Akzeptanz erhöhen: Denn wenn die von einer
Rentenkürzung betroffenen Personen damit rechnen können, dass ihre
Arbeitsfähigkeit unter realistischen Konditionen abgeklärt wird, werden
sie eher bereit sein, zu kooperieren und auch einen negativen
Rentenentscheid zu akzeptieren.
Für die IV birgt dies allerdings das Risiko, dass ihre
Rentenkürzungen einer praktischen Überprüfung nicht standhalten. Das
bedroht das ehrgeizige Sparziel, das die Politik ihr auferlegt hat.
Allein in den nächsten beiden Jahren muss die IV mehrere Tausend Renten
streichen.
Doch die Bevölkerung misst die IV nicht nur daran, ob sie die
Sparziele rechtzeitig erfüllt, sondern auch, auf welche Weise sie diese
erreicht. Sind sie rechtlich nicht einwandfrei zustande gekommen,
untergräbt das die Glaubwürdigkeit. Das kann sich die IV als staatliche
Institution nicht leisten.
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Fall Elsbeth Isler:
Wie die Aufsichtsorgane der Zürcher IV-Stelle und der Psychiatrischen Uniklinik mit Verantwortung umgehen.
Von René Staubli
Was nicht sein darf, kann nicht sein
Sechs Jahre lang hatte die 59-jährige Fehraltorferin Elsbeth
Isler infolge Arbeitsunfähigkeit eine volle IV-Rente bezogen. 2010
entschied die IV-Stelle Zürich nach einer Begutachtung, Isler sei zu 80
Prozent arbeitsfähig — und kürzte ihr die Rente auf ein Viertel. Als der
Versuch zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt scheiterte, sprach
ihr die IV die volle Rente im vergangenen Oktober wieder zu. Begründung:
Sie sei nun doch nicht arbeitsfähig (TA vom 4. und 5. Februar).
Um den falschen Entscheid von 2010 zu vernebeln, attestierte die
IV Isler eine «schwere Persönlichkeitsveränderung», ohne sie
psychiatrisch untersucht zu haben. Ausserdem wies die Versicherung die
Psychiatrische Uniklinik an, einen positiven Bericht über Islers
Arbeitsfähigkeit ins Negative zu drehen. Die Uniklinik kam dem Wunsch
nach, ohne die Klientin noch einmal zu kontaktieren. Das las sich
beispielsweise so: Version 1: «In diesem Zusammenhang erkannte Frau
Isler, dass sie in der Auseinandersetzung mit Institutionen und der
Durchsetzung ihrer Interessen neue Strategien entwickeln kann. In diesem
Prozess war sie offen für Beratungen.»
Version 2: «In diesem Zusammenhang wirkte Frau Isler in der
Auseinandersetzung mit Institutionen und der Durchsetzung ihrer
Interessen starr, konfrontativ und teilweise unrealistisch.»
Synchrone Antworten
Weil die IV-Stelle wie auch die Uniklinik jede Kritik
zurückwiesen, wandte sich der TA an die Aufsichtsorgane der beiden
Institutionen, um nachzufragen, ob sie Handlungsbedarf sähen. Für die
Kontrolle der Zürcher IV-Stelle ist deren Aufsichtsrat zuständig. Er
wird vom ehemaligen FDP-Kantonsrat Thomas Isler präsidiert (nicht
verwandt mit Elsbeth Isler). Die Geschäftsleitung der Uniklinik
untersteht der Gesundheitsdirektion von Regierungsrat Thomas Heiniger,
ebenfalls FDP.
Aus der Gesundheitsdirektion kam folgende Antwort: Die Uniklinik
habe den positiven Arbeitsfähigkeitsbericht nicht einfach ins Negative
umgeschrieben. Zuerst sei der Bericht im Hinblick auf eine
selbstständige Erwerbstätigkeit von Elsbeth Isler verfasst worden. Dann
habe die IV darum gebeten, den Bericht im Hinblick auf ein
Angestelltenverhältnis zu überarbeiten. Da sei alles korrekt gelaufen;
die Gesundheitsdirektion habe «keinen Anlass, Massnahmen zu ergreifen».
Die Antwort des Aufsichtsrats über die IV-Stelle kam
überraschenderweise nicht von Präsident Thomas Isler, sondern von der
IV-Stelle selber, die er zu beaufsichtigen hätte. Der Präsident habe die
Fragen zur Stellungnahme weitergeleitet, hiess es. Daniela Aloisi von
der IV-Stelle teilte dem TA quasi in eigener Sache mit, dass die
Uniklinik im ersten Anlauf die Arbeitsfähigkeit von Elsbeth Isler «im
Hinblick auf eine selbstständige Tätigkeit» beurteilt habe. Nach dem
misslungenen Aufbautraining in Bülach habe man die Uniklinik beauftragt,
«die Ressourcensituation von Elsbeth Isler im Hinblick auf ein
Anstellungsverhältnis im ersten Arbeitsmarkt nochmals zu beurteilen».
Die involvierten Stellen und Personen hätten «korrekt gehandelt»,
stellte Aloisi befriedigt fest.
Bekanntes Muster
Nach diesen perfekt aufeinander abgestimmten Antworten fragte der
TA bei der Gesundheitsdirektion nach, ob sie wirklich der Ansicht sei,
dass die Umformulierung von Charaktereigenschaften der Klientin Elsbeth
Isler irgendetwas mit dem Unterschied zwischen selbstständiger
Erwerbstätigkeit und dem Angestelltenstatus zu tun habe.
Die Gesundheitsdirektion antwortete so: «Die Fähigkeit, ein
Interesse und eine gewisse Offenheit für die Vorbereitung einer
selbstständigen Erwerbstätigkeit zu entwickeln, und die Schwierigkeit,
innerhalb fixer Strukturen und Vorgaben in einem Anstellungsverhältnis
auf ein Arbeitsziel hinzuarbeiten», seien «Kehrseiten derselben Münze».
An die IV-Stelle ging die Frage, ob Elsbeth Isler dafür
entschädigt werde, dass man ihr 2010 die Rente zu Unrecht gekürzt habe.
Statt einer Antwort kam ein Rüffel: «Offenbar können Fakten und
sachliche Darlegungen aller Stellen Sie nicht davon abbringen, Ihrer
vorgefassten These zu folgen.»
Es zeigt sich ein bekanntes Muster: Wenn Institutionen kritisiert
werden, laden die Aufseher die Kritisierten ein, ihre Sicht der Dinge
darzulegen. Was die Kritisierten dann behaupten, erhebt die Aufsicht zur
Wahrheit.
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